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263Die
Steuerung der „Landflucht“
dieser Bühne vorgezeichnet durch die Eingliederung der Ostmark in den Verwal-
tungsapparat des Deutschen Reiches, die im März 1940 mit der Auflösung der
Österreichischen Landesregierung auf Grundlage des Ostmarkgesetzes vollendet
war.37 Als Schutzpatron mit Ablaufdatum nutzte Reinthaller jede Gelegenheit,
auf die agrarpolitischen Probleme in der Ostmark aufmerksam zu machen – und
darüber die Notwendigkeit einer Sonderbehörde für die ostmärkische Landwirt-
schaft zu rechtfertigen. In diesem Zusammenhang diente die regionale und sek-
torale Mobilität ländlicher Arbeitskräfte nach dem „Anschluss“ als Aufhänger für
die Projektion des „Landflucht“-Syndroms, das bereits im „Altreich“ heftig debat-
tiert wurde, auf die Ostmark. Die besondere Note der ostmärkischen Debatte wird
im Vergleich zur reichsministeriellen Diktion deutlich : Darré definierte in seiner
Rede am Reichsbauerntag in Goslar 1938 die „Landflucht“ als „ideelles Problem“ ;
demgegenüber propagierte Reinthaller, wissenschaftlich legitimiert durch seinen
Agrarexperten Ludwig Löhr, eine materielle Problemdefinition. Darüber knüpfte
er die Lösung des Landfluchtproblems nicht an rassen-, sondern an wirtschafts-
und sozialpolitische Maßnahmen gegen die „Unterbewertung der Landwirtschaft“,
die in der Ostmark stärker als im „Altreich“ durchschlug.38 Die Verschränkung
von materieller Problemdefinition und wirtschaftspolitischem Lösungsansatz ließ
das „Bekenntnis zum Blute“ der NSDAP als ungenügend erscheinen, rechtfertigte
vielmehr eine Sonderbehörde für die ostmärkische Landwirtschaft. Der Erfolg
schien dieser Diskursstrategie Recht zu geben ; im April 1940 übernahm Reinthal-
ler die Leitung der Unterabteilung „Bergland“ im Reichernährungsministerium,
die anstatt des aufgelösten Wiener Landwirtschaftsministerium eingerichtet wor-
den war.39
Wie die wirtschafts- und sozialpolitische Kehrtwende umgesetzt werden sollte,
erläuterte der Agrarökonom Ludwig Löhr, der die ministerielle „Landflucht“-Stu-
die wissenschaftlich kommentierte. Danach erforderte die Lösung des Landflucht-
problems nicht Einzelmaßnahmen wie etwa Lohnerhöhungen, sondern ein ganzes
Maßnahmenbündel. Dementsprechend fasste er die vorgeschlagenen Maßnahmen
der befragten Kreis- und Ortsbauernführer zusammen :
„1. Einheitliche Regelung der Landarbeiterlöhne.
2. Angleichung der Krankengesetzgebung an andere Berufszweige.
3. Neuordnung der Altersversicherung und Herabsetzung der Altersgrenze bei Al-
tersrentnern.
4. Regelung der Arbeitszeit, Einführung von Jahresarbeitsverträgen.
5. Verbesserung der Landarbeiterwohnungen.
6. Schaffung von Kleinsiedlungen für Landarbeiter.
7. Erziehung und Schulung zum Landarbeiterberuf (Wecken des Berufsstolzes).
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937