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290 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Bericht des Landrats Zwettl vom Jänner 1943 zufolge gab der Fall, „daß Ostarbei-
ter unter gleichzeitigem Verlassen ihrer Arbeitsstätte sich wegen eines Urlaubes in
die Heimat zum Arbeitsamte in Zwettl begeben haben“, Anlass zu „energischem
Einschreiten“.128 Neben der Rückkehr in das Herkunftsland galt auch das Vermei-
den unzureichender Arbeits- und Lebensbedingungen als „Arbeitsflucht“. Offen-
bar erkannten mache der Arbeitsämter unzureichende Arbeits- und Lebensbedin-
gungen als Grund für Umvermittlungen an, ohne die Gestapo einzuschalten.129
Als „schlechte Behandlung“ galten unzureichende Ernährung, mangelhafte Ver-
sorgung mit Kleidung und unzumutbare Unterkünfte. Dagegen boten überzogene
Arbeitsanforderungen oder übertriebene Bestrafungen kaum Anlässe zur Kritik ;
im Gegenteil : Zumeist klagten die amtlichen Berichterstatter über die ihrer Auf-
fassung nach zu nachsichtige Behandlung der „fremdvölkischen Arbeitskräfte“.130
Hinter dem Delikt der „Arbeitsflucht“ verbarg sich häufig der beabsichtigte
Wechsel in andere Wirtschaftszweige. Neben mangelhafter Versorgung und Re-
pressalien durch Vorgesetzte bot die körperliche Überforderung durch die schwe-
ren Landarbeiten oftmals Anlass, um sich auf eigene Faust auf die Suche nach
einem Arbeitsplatz in Industrie und Gewerbe zu begeben. So gab eine flüchtige
Polin aus dem Kreis Amstetten nach ihrer Festnahme an : „Ich wäre lieber in eine
Fabrik gegangen, weil mir die Arbeiten in der Landwirtschaft zu schwer sind.“131
Ein solcher Schritt setzte jedoch ein Netz aus persönlichen Bekanntschaften vo-
raus, die das Zurechtfinden in der ungewohnten Umgebung erleichterten. In den
letzten Kriegsjahren kehrte sich jedoch die Tendenz zur Flucht in die Städte um ;
Ausländer/-innen zogen scharenweise auf das Land, wo sie eine bessere Versor-
gung vermuteten und sich vor Bombenangriffen sicherer fühlten.132 Fanden aus-
ländische Arbeitskräfte auf den Bauern- und Gutshöfen erträgliche Arbeits- und
Lebensbedingungen vor, dann unternahmen sie mitunter auch Versuche zur Um-
gehung drohender Abziehungen. So schloss etwa der französische Zivilarbeiter
Louis Vives während der arbeitsarmen Wintermonate 1944/45 mit seiner bäuerli-
chen Dienstgeberin einen Pakt, um die Überstellung in einen bombengefährdeten
Industriebetrieb abzuwenden ; er erkaufte sich diese Sicherheit mit dem Verzicht
auf den ihm zustehenden Lohn.133 Von solchen Bündnissen, die den Zugriff der
Arbeitseinsatzbehörden erschwerten, profitierten nicht nur die Arbeitenden selbst,
sondern auch deren Arbeitgeber/-innen.
Erfolg oder Misserfolg der „Einsatzlenkung“ lassen sich kaum am absoluten
Angebot an verfügbaren Kriegsgefangenen und zivilen Arbeitskräften, sondern nur
in Relation zur jeweiligen Nachfrage bemessen. Betrachten wir zu diesem Zweck
die regionale Verteilung der Landarbeitskräfte in Niederdonau im Mai 1939, ge-
gen Ende der „Landwirtschaftsflucht“-Phase und kurz vor Kriegsbeginn. Der Ar-
beitskräftebedarf hing zunächst von der Arbeitsintensität, der pro Flächeneinheit
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937