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292 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Zahlen ausländischer Arbeitskräfte im September 1941.134 Die beiden wichtigsten
Raumdimensionen erklären beachtliche 88 Prozent der Gesamtstreuung (Abbil-
dung 4.10). Die erste Dimension, die allein 70 Prozent der Streuung abdeckt, kor-
reliert positiv mit den Flächenanteilen von Zwerg- und kleinbäuerlichen Betrie-
ben, dem Acker- und Weingartenanteil, der Verwendung von Drillmaschinen, dem
Gewicht nichtständiger familienfremder Arbeitskräfte, der Dichte aller Arbeits-
kräfte und der Ausländer/-innen sowie der Geschlechterproportion der ausländi-
schen Zivilarbeitskräfte. Negative Korrelationen bestehen mit dem Flächenanteil
großbäuerlicher Betriebe, dem Grünland- und Waldanteil, der Verwendung von
Schrotmühlen und dem Anteil ständiger familienfremder Arbeitskräfte. Es han-
delt sich um eine Agrarsystemdimension, deren Pole den Ökotypen Getreide- und
Weinbau mit „Taglöhnergesellschaft“ auf der einen Seite und dem Ökotyp Vieh-
zucht mit „Gesindegesellschaft“ ähneln.135 Auch die Mechanisierung – die Drill-
maschine für die Ackerbestellung zur Einsparung saisonalen Arbeitsaufwands auf
der einen Seite, die Schrotmühle für die Futterbereitung zur Einsparung ständigen
Arbeitsaufwands auf der anderen Seite – spielt eine Rolle. Schließlich wird diese
Dimension von der Arbeitskräftedichte bestimmt ; dabei fällt auf, dass große bzw.
geringe Gesamtdichten mit großen bzw. geringen Dichten der Ausländer/-innen
einhergehen – ein Indiz für eine agrarökonomische Verteilungslogik. Zudem ver-
weist das Hervortreten ausländischer Frauen gegenüber Männern in den Acker-
und Weinbauregionen nahe der „volkstumspolitisch“ sensiblen Reichsgrenze auf
den rassenideologischen Zug des „Reichseinsatzes“ ; jedenfalls besaß im offizi-
ellen Diskurs der „fremdvölkische“ Mann mehr Drohpotenzial als ausländische
Frauen.136
Die zweite Raumdimension, die zusätzlich 17 Prozent der Streuung abdeckt,
korreliert positiv mit dem familienwirtschaftlichen Charakter sowie negativ mit
dem Anteil ausländischer Arbeitskräfte ; sie bemisst die Arbeitskräftezusammen-
setzung. Folglich wurden in den Arbeitsamtsbezirken, in denen familienfremde
Arbeitskräfte anteilsmäßig hervortraten, häufiger Ausländer/-innen eingesetzt –
und umgekehrt. Diese Wechselwirkung lässt auf einen Austausch familienfremder
Knechte und Landarbeiter mit deutscher Staatsbürgerschaft, die zur Wehrmacht
und anderen Diensten abgezogen wurden, gegen Ausländer/-innen schließen. Um-
gekehrt kann vermutet werden, dass bäuerliche Haushalte in Regionen mit ho-
hen Anteilen an Familienarbeitskräften in geringerem Maß mit Ausländer/-innen
beteilt wurden – und folglich dem Zwang, Arbeitskräftemangel durch erhöhte
Anstrengungen und verringerte Ansprüche zu kompensieren, häufiger ausgesetzt
waren. Beide regional ungleich gewichteten Tendenzen – erhöhte Fremdausbeu-
tung der ausländischen Zwangsarbeiter/-innen zum einen, erhöhte Selbstausbeu-
tung der bäuerlichen Familien zum anderen – lassen weniger rassenideologische
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937