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300 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Kriegsgefangenen keine „Arbeitsverweigerungen“ wegen der geltenden Arbeits-
zeitregelung aufgetreten wären, provozierten die ausländischen Zivilarbeiter/-
innen „meist Streitigkeiten, weil die Leute nicht aufstehen wollen oder, wie es
schon vorgekommen ist, am Feld die Arbeit stehen lassen und einschlafen“. Da
einige Dienstgeber „bei solchen Vorkommnissen zur Selbsthilfe gegriffen und den
betreffenden Ausländer verdroschen“ hätten, wären diese „wegen Misshandlung
durch den Betriebsführer“ ersatzlos abgezogen worden. Der Landrat Horn ergreift
hier zweifellos Partei für die bäuerlichen Betriebsbesitzer/-innen : „Leider war in
diesen Fällen bisher immer wieder nur der Bauer der Bestrafte und hat dies auch
dazu geführt, dass die Ausländer tun und lassen, was ihnen beliebt.“151 Jenseits des
Vorwurfes der „Faulheit“ gegenüber den ausländischen Zivilarbeiter/-innen ver-
weist der Bericht auf unterschiedliche Ordnungsvorstellungen : Zur Arbeitszeit der
Kriegsgefangenen bestanden schriftliche Regelungen zwischen Kreisbauernschaft
und Wehrmachtsbehörden ; diese schienen aus behördlicher Sicht ausreichend. Die
zivilen Ausländer/-innen, deren Arbeitsdauer in geringerem Maß durch Vorschrif-
ten geregelt war, wurden in den angesprochenen Fällen wegen der angeblichen
Verfehlungen durch körperliche Züchtigung gemaßregelt ; dies rechtfertigte der
Landrat als bäuerliche „Selbsthilfe“. In diesen unterschiedlichen Ordnungsvorstel-
lungen äußerten sich unterschiedliche Machtverhältnisse : Die Kriegsgefangenen,
die sowjetischen ausgenommen, standen unter dem Schutz der Genfer Konven-
tion ; bezüglich sowjetischer Kriegsgefangener, ziviler Arbeitskräfte aus dem ehe-
maligen Polen und den „besetzten Ostgebieten“ sowie „ungarischer Juden“ schie-
nen keinerlei diplomatische Rücksichtnahmen notwendig.152 Dennoch fanden
dem Landratsbericht zufolge auch unterprivilegierte Gruppen ausländischer Ar-
beitskräfte aufgrund der Widersprüche des „Ausländereinsatzes“ Spielräume vor :
Wurden als „Selbsthilfe“ verstandene Prügelstrafen als „Misshandlungen“ amts-
bekannt, dann mussten die Dienstgeber/-innen mit dem ersatzlosen Abzug der
Malträtierten rechnen. Der Schluss des Landrates, die Ausländer/-innen könnten
unter diesen Umständen „tun und lassen, was ihnen beliebt“, verweist auf erwei-
terte Verhandlungsspielräume als eine Konsequenz ; die andere bestand darin, die
Handgreiflichkeiten nicht über die Hofmauern hinaus dringen zu lassen.
Verschärft wurden die Meinungsverschiedenheiten über Beginn und Ende der
täglichen Arbeitszeit durch die Lagerunterbringung der Kriegsgefangenen, „Ostar-
beiter“ und „ungarischen Juden“. Der Hin- und Rücktransport zwischen Lager und
Einsatzort, vor allem während der sommerlichen Arbeitsspitzen, schlug als Zeit-
verlust zu Buche. Doch auch in den weniger arbeitsreichen Jahreszeiten galten die
Transportzeiten als Hemmnisse des „Arbeitseinsatzes“ : „Die Gefangenen werden
bei Tagesanbruch auf die Arbeitsplätze gestellt und bei Eintritt der Dunkelheit in
die Lager zurückgeführt. Sie können daher weder morgens noch abends zur Stall-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937