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308 „Menschenökonomie“ unter Zwang
von der wochen- und monatelangen Dauer solcher Anlernvorgänge. Bereits vor
der Erstzuweisung von „Ostarbeitern“ hatte der Postenführer wiederholt auf die
„Ungeschultheit“ der „fremdsprachigen“ Arbeitskräfte hingewiesen. Im August
berichtete er, die neu zugeteilten Arbeitskräfte aus der Sowjetunion seien „gröss-
tenteils arbeitsunkundig, müssen erst angelernt werden und bringen es überhaupt
nicht soweit, dass sie eine deutsche Arbeitskraft voll ersetzen können“.188 Zwei
Monate später beurteilte er die meisten „Ostarbeiter“ noch als „sehr ungeschickt“ ;
das Anlernen gehe nur „sehr langsam“ vor sich. Im folgenden Monat zeichnete
sich jedoch bereits ein Meinungsschwenk ab : „Die Ostarbeiter und -arbeiterinnen
beginnen langsam die Arbeiten bei den Bauern zu erlernen und sind so manche
schon ganz gut verwendbar.“189
Lernen erfolgte im bäuerlichen Milieu seit jeher weniger durch Belehren und
Zuhören, mehr durch Vorzeigen und Nachmachen ; häufig vermittelten nicht
Worte, sondern Gesten die praktischen Kenntnisse und Fertigkeiten.190 Wegen
anfänglicher Verständigungsprobleme mit den der deutschen Sprache kaum mäch-
tigen Neuankömmlingen lag diese wortkarge, gestenreiche Form der Kommunika-
tion umso näher. Sergej Zakharovich Ragulin verdeutlicht die Schwierigkeit, die
kryptischen Andeutungen seiner Dienstgeber in Zwerndorf richtig auszulegen :
„Bezeichnend war nun – wie lange habe ich dort gelebt, drei Jahre – wenn man mich
irgendwohin schickte, etwas zu tun, so haben sie mir nie erklärt, wie es zu tun ist,
was zu tun ist, ob es besser so oder schlechter so ist. Sie haben mich einfach arbeiten
geschickt, das wars dann. Ich bin immer hingefahren und habe mir selbst ausgedacht,
was zu tun ist. Ob pflügen oder aufräumen oder Heu richten, was auch immer, nur
irgendwas halt.“191
Als ein polnischer Zivilarbeiter wegen eines Diebstahls vom Hof weg verhaftet
wird, muss Sergej Zakharovich Ragulin an dessen Stelle treten : „Mich versetzte
man zu den Pferden damit ich mich um die Pferde kümmere, drei Pferde, Susi,
Bubi, Fritz [schmunzelt] waren die Pferde. Als ich durchging, habe ich gesehen,
wie der Pole sie versorgt, und so habe ich schnell begriffen, was ungefähr zu tun
ist.“192 Die Zumutung, von einem Tag auf den anderen die Verantwortung für die
Pferde zu übernehmen, bietet dem Jugendlichen wohl auch einen Anreiz ; er sieht
sich nunmehr als erwachsener Pferdeknecht, und will von den anderen auch so
gesehen werden : „Das heißt, für mich hat dann bereits eine vollwertige Arbeit be-
gonnen von vier Uhr morgens und bis zehn am Abend.“193 Für zahlreiche jugend-
liche Ausländer/-innen gingen Arbeiten-Lernen und Erwachsen-Werden Hand in
Hand, bedingten einander sogar von Fall zu Fall. Diese Wachstumserfahrung im
doppelten Sinn trägt wohl auch dazu bei, dass die erlebte Überforderung im heuti-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937