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312 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Dass Dimitrij Filippovich Nelen in der Schilderung seiner Ausbeutungserfahrun-
gen neben den Feldarbeiten auch die Pflege des Viehs erwähnt, deckt sich mit der
statistisch belegbaren Forcierung der Milch- und Mastviehhaltung im Gut Ober-
siebenbrunn. Die Gewalt, die vom Gutsverwalter ausging, erzeugte eine eigentüm-
liche Dynamik innerhalb der Gruppe der „Ostarbeiter“. Er erzählt von den Stra-
tegien der dort beschäftigten „Ostarbeiter“, sich vor dessen Schlägen zu schützen :
„Und der Gutsverwalter, der Gutsverwalter prügelte mit dem Stock, und dort wa-
ren hauptsächlich Stadtburschen [andere ausländische Zivilarbeiter], die wissen doch
nicht wie man arbeitet. Nun, wir arbeiten mit Jätgabel, und sie kennen das nicht, und
so kommen sie uns nicht nach, und die prügeln sie. Und da kommen wir in die Bara-
cke, und sie ziehen dann die Decke auf dich und verprügeln einen, weil du schneller
warst, und seit dieser Zeit wurden wir also nicht mehr schneller, nur alle zusammen
[…], und dann fingen wir also an, gemeinsam zu arbeiten. Also, reiß nicht aus, sonst
kann man eine auf den Deckel von den Seinen bekommen. So war es.“204
Die Gewalt der „Stadtburschen“ gegen die geübteren Landarbeiter zwang jedes In-
dividuum dazu, die Strategie der Gemeinsam-Arbeitens einzuhalten ; darüber kon-
stituierte sich die Arbeitskolonne als handlungsmächtiges Kollektiv und versetzte
sich in die Lage, die Gewalt vonseiten des Gutsverwalters einzudämmen. Dieser
Fall verdeutlicht wie jener der ungarisch-jüdischen Familien die Allgegenwart kör-
perlicher Gewalt beim Kolonneneinsatz ; sie zeigen aber auch deren unterschied-
liche Wirkungsmechanismen. Arbeitszwang konnte, wie im Fall der „ungarischen
Juden“, von außen her ungehindert auf die Betroffenen einwirken. Im Inneren der
Arbeitskolonne konnte jedoch auch, wie im Fall der „Ostarbeiter“, ein Wider-
standspotenzial entstehen, um den von außen kommenden Zwang abzuwehren.
Äußerliche Zwangsmaßnahmen ermöglichten nicht nur die Ausbeutung billiger
und entrechteter Arbeitskräfte ; sie erforderten auch einen erheblichen Überwa-
chungsaufwand, der zwar in Guts- und größeren Bauernbetrieben, jedoch kaum in
bäuerlichen Klein- und Mittelbetrieben tragbar war. Bäuerliche Familienbetriebe
lösten das Problem der Arbeitsüberwachung weniger durch äußere als durch innere
Zwänge, wie der in Zwerndorf eingesetzte Zivilarbeiter Sergej Zacharovic Ragulin
aus Russland erzählt. Der Hofbesitzer übertrug dem damals 14- bis 15-jährigen
Burschen die Verantwortung für das Pferdefuhrwerk – eine Aufgabe, die der ei-
nes erwachsenen Rossknechtes entsprach. So musste er immer wieder zur Mühle
fahren, um Getreide abzuliefern und Mehl zu holen. In der heutigen Erzählung
erscheint das damalige Geschehen als Bewährungsprobe. Er wurde nicht nur dem
Vertrauen des väterlichen Bauern gerecht, sondern enttäuschte auch die Hoffnung
der Mühlenarbeiter, der kleingewachsene, schwächlich anmutende Jugendliche
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937