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Geschichte
Nach 1918
Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
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313 Arbeit als alltägliches Kräftefeld würde an dem 80 bis 90 Kilogramm schweren Mehlsack scheitern : „Ich schwankte unter seiner Last, ich hielt mich aber aufrecht, hielt mich, schwer war es. Ich weiß nicht, wie ich zu dieser Fuhre kam, aber hingekommen bin ich. Nun, ich denke mir, da muss ich hin, ich kam hin.“205 Durch diese Kraftanstrengung bewährte er sich im heutigen Erzählen wie im damaligen Erleben in mehrfacher Weise : als Mann, als Erwachsener, als Arbeiter, als Ziehsohn des Bauern, als „Russe“ unter Deutschen. Kurz, er erkennt  – und verkennt  – offenbar den ihm auferlegten Ar- beitszwang auch als Befreiung von anderen Zwängen. Das heißt freilich nicht, dass Zwang, objektiv gesehen, einer Befreiung gleichkam ; gleichwohl konnte er subjek- tiv als befreiend empfunden werden. Die Szene, in der Sergej Zakharovich Ragulin die Herausforderungen, die sich ihm in der Mühle stellen, erfolgreich bewältigt, erhält in seiner Lebensgeschichte die Funktion eines Passagerituals, durch den der Jugendliche den Übergang von einem niedrigeren zu einem höheren Status bewältigt.206 Die Erfahrung der Aner- kennung, aber auch die davor und danach liegenden Erfahrungen beeinflussen die Art und Weise, in der er heute über sein damaliges Leben erzählt. Er konstruiert eine Erfolgsgeschichte über eine Lebensphase, die sich von der vorangegangenen Phase der Deportation und der nachfolgenden Phase der Repatriierung, Filtration und Situierung in der Sowjetunion als vergleichsweise sichere Zwischenzeit ab- hebt. Damit trägt der Fall des Sergej Zakharovich Ragulin über seine Besonderheit hinaus dazu bei, ein allgemeineres Phänomen zu verstehen und zu erklären : Frauen und Männer stellen im heutigen Erzählen die erfahrenen Zumutungen auch als Anreize dar. Der Verausgabung der eigenen Arbeitskraft wird auf der Einnahmen- seite die Anerkennung vonseiten anderer gegenübergestellt. Die Jahre im Deut- schen Reich, auch wenn sie objektiv negativ bilanzieren, werden von vielen dieser Menschen subjektiv positiv verbucht. Verinnerlichte Zwänge von Ausländer/-innen werden auch aus Sicht der ein- heimischen Bevölkerung fassbar. Anna Fahrnberger, damals Magd am elterlichen Hof Berg in Frankenfels, erinnert sich an den 1925 geborenen ukrainischen Zivil- arbeiter Alexius Schkelelej. Der Jugendliche war nach Unstimmigkeiten mit sei- nem vorigen Dienstgeber geflüchtet ; daraufhin teilte ihn der Ortsbauernführer im April 1944 ihrem Vater zu.207 Kräftige Hände waren am Hof willkommen, denn zwei Brüder dienten bei der Wehrmacht, und der dritte Bruder war wegen eines Leidens für militärisch untauglich befunden worden. Offenbar fürchtete Alexius Schkelelej auch an seinem neuen Dienstplatz die Schrankenlosigkeit, vor der er geflüchtet war ; die ersten Begegnungen mit der Bauernfamilie waren von Angst bestimmt. Anna Fahrnberger stellt die Angst des Burschen als unbegründet dar ; nur am Rande kommt die Rede auf Situationen, in denen „Alex“ in die Schranken verwiesen wurde  – etwa als er gegenüber dem schwächlichen Bauernsohn „einen
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Schlachtfelder Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
Title
Schlachtfelder
Subtitle
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Author
Ernst Langthaler
Publisher
Böhlau Verlag
Location
Wien
Date
2016
Language
German
License
CC BY-NC 3.0
ISBN
978-3-205-20065-9
Size
15.5 x 23.5 cm
Pages
948
Categories
Geschichte Nach 1918

Table of contents

  1. Vorwort 9
  2. 1. Akteure in Agrarsystemen 11
  3. Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
    1. 1.1 Von (Re-)Aktionsmustern zu Interaktionsfeldern 11
    2. 1.2 Agrarsysteme und Landwirtschaftsstile im Kräftefeld 16
    3. 1.3 Instrumente der Feldvermessung 26
  4. 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
  5. Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
    1. 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
    2. 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
    3. 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
    4. 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
    5. 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
    6. 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
    7. 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
    8. 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
    9. 2.9 Zusammenfassung 149
  6. 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
  7. Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
    1. 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
    2. 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
    3. 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
    4. 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
    5. 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
    6. 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
    7. 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
    8. 3.8 Zusammenfassung 253
  8. 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
  9. Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
    1. 4.1 Die Steuerung der „Landflucht“ 257
    2. 4.2 Die Steuerung des „Reichseinsatzes“ 277
    3. 4.3 Arbeit als alltägliches Kräftefeld 298
    4. 4.4 Gerechter Lohn oder Ausbeutung ? 322
    5. 4.5 „Menschenökonomie“ vor Ort 347
    6. 4.6 Zusammenfassung 371
  10. 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
  11. Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
    1. 5.1 „Bauerntum“ und Technik – (k)ein Widerspruch ? 375
    2. 5.2 „Bauernstolz“ oder Klientenmentalität ? 385
    3. 5.3 Staatshilfe als „Auslese“ 404
    4. 5.4 „Aufrüstung“ in den Bergen 436
    5. 5.5 Kapitaleinsatz vor Ort 472
    6. 5.6 Zusammenfassung 494
  12. 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
  13. Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
    1. 6.1 Das agronomische Expertensystem 497
    2. 6.2 Vordenker des „Aufbaus“ 506
    3. 6.3 Bindeglied zwischen Führung und „Landvolk“ ? 518
    4. 6.4 Wirtschaftsberatung vor Ort 534
    5. 6.5 Die imaginierte „Volksgemeinschaft“ 543
    6. 6.6 Zusammenfassung 566
  14. 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
  15. Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
    1. 7.1 Der Markt und seine (Un-)Ordnung 570
    2. 7.2 Lange Schatten, kurzer Prozess 585
    3. 7.3 Öffentliche Bewirtschaftung, privates Wirtschaften 593
    4. 7.4 Die verlorene „Erzeugungsschlacht“ ? 620
    5. 7.5 „Kriegserzeugungsschlacht“ vor Ort 642
    6. 7.6 Vom Wert der Landarbeit 669
    7. 7.7 Zusammenfassung 695
  16. 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
  17. Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
    1. 8.1 Jenseits von Traditionalität und Modernität 699
    2. 8.2 Großbritannien und die Ostmark im Krieg 709
    3. 8.3 Österreich zwischen Krise und Boom 726
    4. 8.4 Versuchsstation des völkischen Produktivismus 742
  18. Anmerkungen 755
  19. Tabellenanhang 824
  20. Farbabbildungsanhang 849
  21. Quellen- und Literaturverzeichnis 865
  22. Abkürzungsverzeichnis 918
  23. Tabellenverzeichnis 920
  24. Abbildungsverzeichnis 927
  25. Personenregister 933
  26. Ortsregister 934
  27. Sachregister 937
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