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Arbeit als alltägliches Kräftefeld
würde an dem 80 bis 90 Kilogramm schweren Mehlsack scheitern : „Ich schwankte
unter seiner Last, ich hielt mich aber aufrecht, hielt mich, schwer war es. Ich weiß
nicht, wie ich zu dieser Fuhre kam, aber hingekommen bin ich. Nun, ich denke
mir, da muss ich hin, ich kam hin.“205 Durch diese Kraftanstrengung bewährte er
sich im heutigen Erzählen wie im damaligen Erleben in mehrfacher Weise : als
Mann, als Erwachsener, als Arbeiter, als Ziehsohn des Bauern, als „Russe“ unter
Deutschen. Kurz, er erkennt – und verkennt – offenbar den ihm auferlegten Ar-
beitszwang auch als Befreiung von anderen Zwängen. Das heißt freilich nicht, dass
Zwang, objektiv gesehen, einer Befreiung gleichkam ; gleichwohl konnte er subjek-
tiv als befreiend empfunden werden.
Die Szene, in der Sergej Zakharovich Ragulin die Herausforderungen, die sich
ihm in der Mühle stellen, erfolgreich bewältigt, erhält in seiner Lebensgeschichte
die Funktion eines Passagerituals, durch den der Jugendliche den Übergang von
einem niedrigeren zu einem höheren Status bewältigt.206 Die Erfahrung der Aner-
kennung, aber auch die davor und danach liegenden Erfahrungen beeinflussen die
Art und Weise, in der er heute über sein damaliges Leben erzählt. Er konstruiert
eine Erfolgsgeschichte über eine Lebensphase, die sich von der vorangegangenen
Phase der Deportation und der nachfolgenden Phase der Repatriierung, Filtration
und Situierung in der Sowjetunion als vergleichsweise sichere Zwischenzeit ab-
hebt. Damit trägt der Fall des Sergej Zakharovich Ragulin über seine Besonderheit
hinaus dazu bei, ein allgemeineres Phänomen zu verstehen und zu erklären : Frauen
und Männer stellen im heutigen Erzählen die erfahrenen Zumutungen auch als
Anreize dar. Der Verausgabung der eigenen Arbeitskraft wird auf der Einnahmen-
seite die Anerkennung vonseiten anderer gegenübergestellt. Die Jahre im Deut-
schen Reich, auch wenn sie objektiv negativ bilanzieren, werden von vielen dieser
Menschen subjektiv positiv verbucht.
Verinnerlichte Zwänge von Ausländer/-innen werden auch aus Sicht der ein-
heimischen Bevölkerung fassbar. Anna Fahrnberger, damals Magd am elterlichen
Hof Berg in Frankenfels, erinnert sich an den 1925 geborenen ukrainischen Zivil-
arbeiter Alexius Schkelelej. Der Jugendliche war nach Unstimmigkeiten mit sei-
nem vorigen Dienstgeber geflüchtet ; daraufhin teilte ihn der Ortsbauernführer im
April 1944 ihrem Vater zu.207 Kräftige Hände waren am Hof willkommen, denn
zwei Brüder dienten bei der Wehrmacht, und der dritte Bruder war wegen eines
Leidens für militärisch untauglich befunden worden. Offenbar fürchtete Alexius
Schkelelej auch an seinem neuen Dienstplatz die Schrankenlosigkeit, vor der er
geflüchtet war ; die ersten Begegnungen mit der Bauernfamilie waren von Angst
bestimmt. Anna Fahrnberger stellt die Angst des Burschen als unbegründet dar ;
nur am Rande kommt die Rede auf Situationen, in denen „Alex“ in die Schranken
verwiesen wurde – etwa als er gegenüber dem schwächlichen Bauernsohn „einen
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937