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742 Eine grünbraune Revolution ?
Agrarproduktion überwiegend den Reproduktionszyklen ihrer pflanzlichen und
tierischen Ressourcenbasis verbunden. Hingegen schöpfte die „Grüne Revolu-
tion“ seit Mitte des 20. Jahrhunderts ihren enormen Produktivitätszuwachs aus
dem Wechsel der Energiebasis von der Nutzung organischer Ressourcen aus der
Biosphäre zum Verbrauch mineralischer Ressourcen aus der Lithosphäre. Die Er-
schließung fossiler Energieträger zur Motomechanisierung und Chemisierung des
Agrarsystems entkoppelte die Nahrungsproduktion von den Reproduktionszyklen
ihrer lokalen und regionalen Ressourcenbasis. Folglich wurde der produktivisti-
sche Betrieb abhängig von überregionalen, über Märkte vermittelten Ressourcen-
flüssen, die ihn als Konsumenten industrieller Fertigprodukte und Produzenten
industrieller Rohstoffe der Industriegesellschaft ein- und unterordneten.140 Eine
entscheidende Triebkraft des revolutionären Übergangs von der organischen zur
mineralischen Ressourcenbasis entfachte – neben den marktvermittelten Impul-
sen
– der agrarische Interventionsstaat. Folglich lässt sich für das Nachkriegsöster-
reich, wie im britischen Vergleichsfall, von einer „staatsgeleiteten Agrarrevolution“
sprechen.141
8.4 Versuchsstation des völkischen Produktivismus
Auf der Grundlage des räumlichen und zeitlichen Vergleichs können wir die Ent-
wicklung des österreichischen Agrarsystems und seiner Akteure in der NS-Ära
modellhaft nachzeichnen. Entgegen der in der Literatur hervorgehobenen Statik
–
„Die Bauern verharrten in ihren bisherigen Gewohnheiten, nutzten, was ihnen
von Vorteil erschien, versuchten jene Bestimmungen zu umgehen, die ihnen lästig
waren, und verhielten sich alles in allem gegenüber der Obrigkeit so loyal wie eh
und je.“142 – bietet sich für die Ostmark ein überraschend dynamisches Bild. Die
betrieblichen Entwicklungspfade verliefen in einem einerseits in die nicht-pro-
duktivistische, andererseits in die produktivistische Richtung hin erweiterten Ma-
növrierraum (Abbildung 8.10). Auf der einen Seite erweiterten die Regulative des
volkspolitisch motivierten „Bauernschutzes“ – Erbhofgerichtsbarkeit, Entschul-
dungsaktion, Sozialleistungen und so fort – die Möglichkeiten nicht-produktivis-
tischen Wirtschaftens, dem die Zwangsversteigerungswelle vor dem „Anschluss“
enge Grenzen gesetzt hatte. Gemäß der Inklusions-Exklusions-Logik der natio-
nalsozialistischen „Volksgemeinschaft“ war der nach Leistungskriterien abgestufte
„Bauernschutz“ gekoppelt mit der „Entjudung“, in deren Zuge der NS-Staat jüdi-
schen Grundbesitz zur „Neubildung deutschen Bauerntums“ enteignete. Innerhalb
der Gemeinschaft des „deutschen Landvolkes“ begrenzte die Leistungskontrolle
des Reichsnährstandes den Manövrierraum ; so konnte „Bauern“ und „Landwir-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937