Seite - 216 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
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216 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
ters nicht mehr in der Lage, den Hof „ordnungsgemäß“ zu bewirtschaften ; daher
verpachteten sie die meisten Gründe, wie Juliane Hopfinger, oder wirtschafteten
mehr schlecht als recht vor sich hin, wie Gregor Dorner. Zudem waren die beiden
Alten unverheiratet und hatten keine Nachkommen, die als Anerben infrage ka-
men. Überdies stellten in beiden Verfahren, wohl zu aller Überraschung, nahe oder
entfernte Verwandte Ansprüche auf das Erbhofeigentum ; diesen bot das AEG
eine Bühne, um schwelende Konflikte – im Fall von Hopfinger ein Pacht-, im
Fall von Dorner ein Arbeitsverhältnis
– zu ihren Gunsten auszutragen. Schließlich
waren in beiden Verfahren bereits Personen, die der Anforderung der „Bauernfä-
higkeit“ entsprachen, als Käufer/-innen in Aussicht. Während im Fall von Dorner
die Eigenschaften der Vertragspartner/-innen kaum erörtert wurden, erhielten sie
im Fall von Hopfinger enormes Gewicht : Das „Blut der alten Bauerngeschlechter
des Waldviertels“, das nach der vom NS-Staat erzwungenen Trennung wiederum
mit dem Boden verbunden werden müsse, wog schwerer als die Zugehörigkeit des
in seiner „Ehrhaftigkeit“ und „Wirtschaftsfähigkeit“ infrage gestellten Neffen zur
„Sippe“ der Erbhofeigentümerin – ein außergewöhnlich normales Paradoxon der
Erbhofgerichtsbarkeit, das die behauptete Naturbürtigkeit des „deutschen Bauern“
als politisch-ökonomisches Machwerk enthüllte.
3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ?257
Das REG unterwarf nicht nur die zum Erbhof gehörenden Landparzellen, son-
dern auch deren Eigentümer/-innen – ideologisch gesprochen, den „Boden“ wie
das „Blut“
– der gerichtlichen Aufsicht. War der „Landwirt“ negativ, als nicht-bäu-
erlich bestimmt, definierte es den „Bauern“ positiv : „Land- und forstwirtschaftli-
cher Besitz in der Größe von mindestens einer Ackernahrung und von höchstens
125 Hektar ist Erbhof, wenn er einer bauernfähigen Person gehört. Der Eigen-
tümer des Erbhofs heißt Bauer. Bauer kann nur sein, wer deutscher Staatsbürger,
deutschen oder stammesgleichen Blutes und ehrbar ist.“258 Die Einstufung eines
Betriebsbesitzers als „Bauer“ – Frauen, die in der „Anerbenfolge“ des REG ge-
genüber Männern extrem benachteiligt waren, als Erbhofeigentümerinnen galten
als Ausnahme von der Regel259 – hing von zwei Bedingungen ab : der Größe des
Betriebes und der „Bauernfähigkeit“ der Person. Während erstere durch Flächen-
unter- und Obergrenzen – von einer „Ackernahrung“ bis 125 Hektar – bestimmt
wurde, hing letztere von zumindest fünf Maßstäben ab : der deutschen Staatsange-
hörigkeit, der „Deutschstämmigkeit“ oder „Stammesgleichheit“, der Mündigkeit,
der „Ehrbarkeit“ und der „Wirtschaftsfähigkeit“.260 Neben diesen Gesetzespara-
graphen erörterten spitzfindige Juristen auch „übergesetzliche Erfordernisse der
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937