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16 Akteure in Agrarsystemen
einerseits das
– bereits ein Jahrzehnt zuvor festgestellte60
– Fehlen einer umfassen-
den, auf der Höhe der wissenschaftlichen Diskussion stehenden Darstellung der
Agrargesellschaft in der Ostmark ; andererseits das Fehlen eines agrarhistorischen
Forschungsansatzes, der die eingeschliffenen Gegensätze zwischen Struktur- und
Praxisperspektive zu überwinden vermochte. Diese und weitere Aktivitäten mün-
deten in einem längeren Forschungsschwerpunkt : Im Zuge eines vergleichenden
Forschungsprojekts zur regionalen Agrarentwicklung in Niederösterreich im 20.
Jahrhundert61 stieß ich auf Quellen, die der ländlichen Mikrogeschichte in der
NS-Ära eine hervorragende Basis boten.62 Zudem eröffnete ein Forschungsprojekt
zur Zwangsarbeit in der Land- und Forstwirtschaft im Reichsgau Niederdonau63
die Gelegenheit, ein zentrales Interaktionsfeld zwischen NS-Regime und Agrarge-
sellschaft auszuarbeiten. Das am Institut für Geschichte des ländlichen Raumes64
angesiedelte Habilitationsprojekt65 ermöglichte schließlich, das Gesamtvorhaben
umzusetzen – und die anfangs festgestellten Probleme empirischer und theoreti-
scher Art zu bearbeiten. Das vorliegende, auf meiner Habilitationsschrift basie-
rende Buch sucht die beiden Fragen, die der Handbuchbeitrag vor eineinhalb Jahr-
zehnten aufwarf, zu beantworten.
1.2 Agrarsysteme und Landwirtschaftsstile im Kräftefeld
In Abweichung vom gängigen Lehrbuchwissen begreift diese Studie die Agrarge-
sellschaft nicht bloß als ‚vormoderne‘, der ‚(post-)modernen‘ Industrie- und Dienst-
leistungsgesellschaft vorgelagerte Entwicklungsstufe. Vielmehr geht es ihr um jene
Sphäre der Gesellschaft, in der die Produktion land- und forstwirtschaftlicher Gü-
ter und Dienstleistungen mittels Land- und Viehnutzung zum Eigen- oder Fremd-
konsum sowie deren formelle und informelle Regulative (Familienbetrieb, Genos-
senschaft, Agrarpolitik usw.) vergleichsweise dauerhafte Zusammenhänge bilden.66
Auf dem Weg in die (west-)europäische Moderne trat die gesamtgesellschaftliche
Prägekraft des Agrarbereichs zugunsten des Industrie- und schließlich des Dienst-
leistungsbereichs mehr und mehr zurück.67 Doch auch für die zunehmend vom
Industrie- und Dienstleistungssektor geprägte Gesamtgesellschaft leistet die agra-
rische Teilgesellschaft – der Agrarsektor – wichtige Funktionen : durch die Abgabe
von Lebensmitteln, Rohstoffen und Arbeitskräften an andere Wirtschaftszweige
wie durch die Abnahme von Industrieprodukten und Dienstleistungen.68 So ver-
fügten auch die nationalstaatlich verfassten Gesellschaften Europas, die sich im
20. Jahrhundert zu Industrie- und Dienstleistungsgesellschaften wandelten, über
darin ein- und untergeordnete agrargesellschaftliche Sphären. Der – durch inner-
und zwischenstaatliche Kriege mitunter aufgesprengte – Behälterraum des Nati-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937