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593Öffentliche
Bewirtschaftung, privates Wirtschaften
gebend ist : fehlende Parteimitgliedschaft, zwei bis fünf Hektar Grundbesitz, ge-
werbliche Nebentätigkeit, verurteilt wegen geringer Mengen verbotenerweise ge-
schlachteten Viehs zu leichten bis mittleren Geld- und Gefängnisstrafen.
Die Vermessung des Raumes der ländlichen Schattenwirtschaft folgt einem
Dreischritt : Erstens verschafft der Gesamtraum einen Überblick über die Bezie-
hungsstruktur der Gesamtheit der Fälle ; die drei Dimensionen mit ihren jeweils
zwei Polen von Merkmalsausprägungen unterscheiden insgesamt acht (Ideal-)Ty-
pen von Verurteilten. Zweitens vollzieht die Abgrenzung einzelner Gruppen von
Fällen einen Schwenk von der Gesamt- zur Detailansicht, in der (Real-)Typen
von Verurteilten – der bäuerlich-amtliche Falschmelder, der bedienstete Getreidever-
fütterer, der bäuerliche Schleichhändler und der bäuerliche Schwarzschlächter – fassbar
werden. Drittens eröffnen innerhalb dieser Gruppen einzelne Fälle weiterführende
Einblicke in die Praxis ländlichen Wirtschaftens, die von der Hinterbühne des
Alltags auf die Vorderbühne des Sondergerichts verlagert wird. Zu diesem Zweck
gehen wir in der Regel von den jeweils zentralen, ausnahmsweise von benachbarten
Fällen aus, um über Bezüge zu anderen Fällen einige Facetten der Alltagspraxis ab-
seits der offiziellen Norm, des privaten Wirtschaftens im Rahmen der öffentlichen
Bewirtschaftung, zu erschließen.
7.3 Öffentliche Bewirtschaftung, privates Wirtschaften
Nehmen wir zunächst den zentralen Fall der zahlenmäßig größten Gruppe, der
bäuerlichen Schwarzschlächter, unter die Lupe. Anton Binder, geboren 1900 und ge-
meinsam mit seiner Ehefrau Besitzer eines 17 Hektar großen Erbhofes in Jeuten-
dorf, Kreis St. Pölten, musste sich 1942 vor dem Sondergericht beim Landgericht
Wien wegen der Schlachtung dreier Schweine ohne Bewilligung des Ernährungs-
amtes und ohne Entrichtung der Schlachtsteuer im April, September und De-
zember 1941 verantworten.73 Das Sondergericht unter dem Vorsitz von Richter
Ewald betrachtete die „Schwarzschlachtung“ des zweiten Schweines aufgrund des
Geständnisses des Angeklagten und der Zeugenaussagen als erwiesen ; hinsicht-
lich des ersten und dritten Schweines konnte dieser jedoch nicht überführt wer-
den. Da der Angeklagte in Kenntnis der Tragweite seiner Tat – demnach „böswil-
lig“ – Schweinefleisch der Bewirtschaftung entzogen, dieses beiseite geschafft und
die Fleischversorgung „jedenfalls in örtlich spürbarem Umfange“ gefährdet habe,
wurde seine Tat als Verbrechen gegen die KWVO gewertet ; zudem hatte er wegen
Schlachtsteuerhinterziehung ein Vergehen gegen die Reichsabgabenordnung be-
gangen. Unter Berücksichtigung der Sorgepflicht für die Ehefrau, des Geständnis-
ses und einer gewissen Notlage als mildernd sowie des Zusammentreffens zweier
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937