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172 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
Momenten der Rechtspraxis aus,106 lässt sich die Grundtendenz der Reichserbhof-
rechtsentwicklung auf den Punkt bringen : Die „Blut und Boden“-Politik verlor zwar
nicht gänzlich, aber doch erheblich an Gewicht gegenüber volks- und betriebswirt-
schaftlichen sowie bäuerlich-moralischen Ansprüchen.
3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung
Die Bodenordnung in Niederdonau als zentrales Machtdispositiv des nationalsozi-
alistischen Diskurses über Grundbesitz war durch scheinbar gegenläufige Entwick-
lungen gekennzeichnet : einerseits die gänzliche Radikalisierung der exklusiven
Bodenpolitik, andererseits die teilweise Radikalisierung – etwa das Einfrieren des
„ländlichen Grundverkehrs“ per „Führererlass“
– und Entradikalisierung
– etwa die
verbesserte Rechtsstellung von Frauen durch die Erbhoffortbildungsverordnung –
der inklusiven Bodenpolitik. Handelte es sich tatsächlich um gegenläufige, oder
etwa um parallel laufende oder sogar zusammenwirkende Entwicklungsstränge ?
Eine Spur zur Antwort auf diese Frage legt Heinz Haushofer, der 1940 als für die
Obere Siedlungsbehörde verantwortlicher Abteilungsleiter beim Reichsstatthal-
ter in Niederdonau, die bäuerliche Siedlung in einem Atemzug mit der landwirt-
schaftlichen „Entjudung“ nannte :
„In der vergangenen Zeit beschränkte man sich bei den Umlegungen darauf, den
wirtschaftlichen Aufbau der Dörfer unverändert zu belassen. In der Folge aber will
man – und das ist eine besonders wichtige und dankenswerte Aufgabe der natio-
nalsozialistischen Agrarpolitik – die Gliederung der Dörfer verbessern, insbesondere
in der Richtung, daß kaum lebensfähige und nur unzulänglich mit Boden versorgte
Kleinbetriebe durch Zuweisung von Land leistungsfähig gemacht werden. Außer der
Anliegersiedlung gehört die Schaffung von neuen Bauernstellen zum Hauptarbeits-
gebiet der Oberen Siedlungsbehörde, die sich dabei der Mitarbeit der ‚Deutschen
Ansiedlungsgesellschaft‘ als gemeinnützigen Siedlungsträgers bedient. Seit Beginn
der Siedlungstätigkeit im Gau Niederdonau wurden bisher 124 Fälle mit einer Ge-
samtfläche von 18.477 Ha. behandelt. Der größte Teil dieser vielfach aus jüdischem
Besitz stammenden Flächen wurde bereits angekauft oder soll in nächster Zeit käuf-
lich übernommen werden. Der Ankauf von weiteren 15.000 bis 20.000 Ha. dürfte
in den nächsten Jahren erfolgen, so daß es nicht nur möglich sein wird, alle Bauern
wieder mit Land zu versorgen, die durch eine Landabgabe an die Wehrmacht betrof-
fen wurden, sondern auch eine entsprechende Anzahl neuer Erbhöfe zu schaffen. Die
Wehrmachtsumsiedlung steht vor ihrem Abschluss, während die Neuschaffung von
Höfen vorläufig bis nach Kriegsende zurückgestellt werden mußte.“107
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937