Seite - 156 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Bild der Seite - 156 -
Text der Seite - 156 -
156 „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe
Wirkung verlieh, war ihre eigentümliche Rationaliät – jener Sinn, der aus einer
Vor–1945er-Perspektive daran anknüpfenden Praktiken eine Rechtfertigung ver-
lieh : „Die Metaphern, die Darré übernahm, verwandelten sich in seinen Händen.
Sie erhielten durch das Expertenwissen die Assoziation der Machbarkeit [Hervorhe-
bung im Original].“27 Die Akribie, mit der die Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft
der Wiener Deutschen Studentenschaft 1938 Grundbücher auswerteten, Bevölke-
rungspyramiden errechneten und Landkarten zeichneten, vermittelt einen vagen
Eindruck vom sinnstiftenden Potenzial der „Blut und Boden“-Metapher. Die ak-
ribische Aufarbeitung des „gesamten Grenzraum[es] von Kärnten bis Oberdonau“
sollte „der praktischen Grenzlandpolitik die notwendigen Grundlagen liefer[n]“.28
Freilich, die Rationalität der „Blut und Boden“-Ideologie ernst zu nehmen, sollte
nicht dazu verleiten, darin die wichtigste oder gar einzige Triebkraft des Umgangs
mit Grundbesitz im „Dritten Reich“ zu sehen ; der nationalsozialistische Agraris-
mus war eingebettet in ein Spannungsfeld mit-, neben- und gegeneinander wirken-
der Kräfte, dessen Akteure ihn verstärkten oder abschwächten, ihn aufrechterhielten
oder anpassten, ihn zum Leitmotiv erhoben oder anderen Zwecken unterordneten.
Neben dem studentischen Grenzlandeinsatz bedurfte es weiterer, mächtige-
rer Dispositive, damit der nationalsozialistische Diskurs von „Blut und Boden“
im Denken und Handeln von Akteuren in mehr oder weniger vermittelter Weise
wirksam werden konnte. Bevor in Fallstudien alltägliche Momente erkundet wer-
den, geht es zunächst um die offizielle Ordnung des Grundbesitzes im „Dritten
Reich“. Die historische Forschung zur nationalsozialistischen Bodenpolitik hat
sich entweder – in der Mehrzahl – auf die Erbhofpolitik und andere Aspekte der
inklusiven Seite,29 oder – in der Minderzahl – auf die exklusive Seite, etwa die
„Arisierungen“ von jüdischem Grundbesitz, konzentriert.30 Studien, die reziproke,
redistributive und marktförmige Landtransfers im Zusammenhang betrachten,31
fehlen für die NS-Ära völlig. Allein die Forschungen zur ländlichen Raumpla-
nung im Deutschen Reich und in den eroberten Gebieten in Osteuropa haben auf
den Konnex von ‚Entwurzelung‘ und ‚Verwurzelung‘ im Zuge projektierter, zum
Teil auch umgesetzter Bevölkerungsverschiebungen hingewiesen.32 Vor diesem
Forschungshintergrund liegt es nahe, dem Doppelgesicht der Bodenordnung mehr
Aufmerksamkeit als bisher zu widmen.
3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung
Unverzüglich nach dem „Anschluss“ im März 1938 wurden die Regelwerke der
nationalsozialistischen Bodenpolitik, die im „Altreich“ über die Jahre Zug um Zug
gewachsen waren, im „Lande Österreich“ binnen weniger Monate
– quasi im Zeit-
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937