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566 Das „Landvolk“ und seine Meister
Im weitesten Sinn folgten die Briefe Leitners der Vision eines autoritären Wohl-
fahrtsstaates, der den „Gebirgsbauern“ – wie den übrigen Gruppen der „Volksge-
meinschaft“ – ‚gerechte‘ Arbeits- und Lebensbedingungen bot. Dieser auch durch
die sozialrechtlichen Neuerungen nach dem „Anschluss“255 bekräftigte Gemein-
schaftsentwurf verfügte offenbar über ein erhebliches Potenzial zur Mobilisierung
von ländlichen Akteuren, die aufgrund katholisch-konservativer Prägung wenige
Berührungspunkte mit der nationalsozialistischen Ideologie hatten. Die vom Natio-
nalsozialismus genährte Vision eines „völkischen“ Wohlfahrtsstaates zerbrach
– trotz
zahlreicher Profiteure staatlicher Umverteilung256 – schließlich an der selbstzerstö-
rerischen Realität des Regimes.257 Doch aus der Perspektive von 1941 vermochte
dieser Gemeinschaftsentwurf sein mobilisierendes Potenzial noch ungebrochen zu
entfalten – auch auf den Berghöfen der Voralpen. In diesem Zusammenhang wird
eine Entscheidung Leitners, die in seinem damaligen Umfeld wohl einiges Unver-
ständnis auslöste, etwas verständlicher. Im April 1941, etwas mehr als zwei Wochen
nach seiner gütlichen Aussprache mit dem Landrat, verließ der „Gebirgsbauer“ all
das, worum er in seinen Briefen gerungen hatte, um sich in die Arme einer größeren,
mehr „Kameradschaft“258 verheißenden Gemeinschaft zu begeben : Er trat – allem
Anschein nach freiwillig
– als einfacher Gefreiter in die Deutsche Wehrmacht ein.259
6.6 Zusammenfassung
Die forcierte Durchstaatlichung der Sphären von Markt und Alltagswelt, die in
anderen Feldern der nationalsozialistischen Agrargesellschaft voranschritt, kenn-
zeichnete auch das Feld des Agrarwissens (Abbildung 6.13). Die Produktion und
Verbreitung agrarischen Expertenwissens lag nicht erst im „Dritten Reich“, son-
dern bereits seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert in den Händen staatlicher
und staatsnaher Organisationen. In Verbindung damit hatte sich ein von katho-
lisch-konservativen und deutschnational-liberalen Verlagen bespielter Markt an
Druckschriften für ein ländliches Lesepublikum etabliert. Nach dem „Anschluss“
unterwarf der Forschungsdienst als Dachorganisation das Netz bestehender For-
schungsstätten zusammen mit neu geschaffenen Einrichtungen, etwa der Reichs-
forschungsanstalt für Landwirtschaft im ostmärkischen Donauraum, einer zentra-
len Steuerung. Das agronomische Expertensystem mit dem Forschungsdienst als
Steuerungszentrale bildete die intellektuelle Elite der sich formierenden Wissens-
gesellschaft. In diesem Zusammenhang suchten Expertengutachten zur Lösung
der ostmärkischen Agrarprobleme – und damit zur ‚nachholenden Modernisie-
rung‘ – die regionalen Agrarsysteme der Alpen- und Donaureichsgaue gemäß de-
ren Eigenarten planerisch zu optimieren.
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Titel
- Schlachtfelder
- Untertitel
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Autor
- Ernst Langthaler
- Verlag
- Böhlau Verlag
- Ort
- Wien
- Datum
- 2016
- Sprache
- deutsch
- Lizenz
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Abmessungen
- 15.5 x 23.5 cm
- Seiten
- 948
- Kategorien
- Geschichte Nach 1918
Inhaltsverzeichnis
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937