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334 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Die Frage nach ‚Gerechtigkeit‘ oder Ausbeutung im Zusammenhang mit der
Entlohnung von Ausländer/-innen kann vor dem Hintergrund der Gesetzeslage klar
beantwortet werden. ‚Gerechten‘ Lohn gab es bestenfalls für die zivilen Arbeitskräfte
aus Nord-, West-, Süd- und Südosteuropa, für die etwa dieselben Bedingungen wie
für deutsche Arbeitskräfte galten, vorausgesetzt es bestanden keine zwischenstaat-
lichen Abkommen. Kriegsgefangene aller Nationen und Zivilarbeiter/-innen aus
Osteuropa im Allgemeinen, aus der Sowjetunion im Besonderen, waren vergleichs-
weise stärker Ausbeutungsverhältnissen unterworfen. Einen Sonderfall stellten die
„ungarischen Juden“ dar, denen – wie den „Ostarbeitern“ bis Juni 1942 – de facto
keine Barlöhne zustanden. Das lohnpolitische Regelwerk schrieb neben rassen- auch
geschlechter- und generationenbezogene Benachteiligungen fest ; diese hielten sich
jedoch weitgehend im Rahmen dessen, was auch deutschen Frauen und Jugendli-
chen zugemutet wurde. Die nach Zivil- und Militärbereich getrennte Lohnpolitik
gegenüber ausländischen Arbeitskräften in der Landwirtschaft folgte offenbar pri-
mär einer nationalistischen und rassistischen Logik ; erst in zweiter Linie kamen
Diskriminierungen nach dem Geschlecht und dem Alter zum Tragen.
Einige Fälle zeigen aber auch, dass sich die Ausbeutungsverhältnisse des Regel-
werks des „Reichseinsatzes“ mit jenen des Bauern- und Gutsbetriebes verbanden.
Freilich müssen wir dabei in Betracht ziehen, dass die heutigen Erzähler/-innen da-
mals noch vielfach Kinder und Jugendliche waren, denen nach der Tarifordnung für
Ausländer/-innen wie den für Inländer/-innen gültigen Maßstäben eine geringere
Entlohnung zustand. Doch Forschungen über das bäuerliche Gesinde im Österreich
der Zwischenkriegszeit zeigen, dass in der Regel auch inländischen Jugendlichen
trotz des Übergewichts der Naturalentlohnung bereits Geldlohn zustand : Burschen
bezogen bis zum 16. Lebensjahr neben Kost, Naturalien und Quartier keinen oder
einen geringen Bargeldbetrag ; der Statuswechsel vom „Bub“ zum „Knecht“ mit etwa
16 Jahren schlug sich auch in der Gewährung oder Vervielfachung des Geldlohns
nieder. Ähnlich war es üblicherweise bei den Mädchen, wo der Statuswechsel vom
„Mensch“ zur „Dirn“ einige Jahre später, um das 18. Lebensjahr, stattfand.279 Helene
Pawlik und die Mutter von Sergej Zakharovich Ragulin waren zu Beginn ihres Ar-
beitseinsatzes in der Landwirtschaft bereits über 20 Jahre alt ; damit standen ihnen
den gesetzlichen Bestimmungen zufolge die vollen Lohnsätze für die entsprechen-
den Kategorien von Ausländer/-innen zu. Vor diesem Hintergrund repräsentieren
die Fälle dieser und anderer ausländischer Landarbeiter/-innen Formen betriebli-
cher Ausbeutung hinsichtlich des Geldlohnes. Demgegenüber wurden die gesetzli-
chen Bestimmungen in anderen Fällen im Großen und Ganzen eingehalten : Janusz
Kieslowski, der in Reinsberg als polnischer Landarbeiter beschäftigt war, erzählt,
dass er die 20 Reichsmark Monatslohn wegen mangelnder Konsummöglichkeiten
kaum ausgeben konnte ; so legte er Monat für Monat einen Betrag auf die Seite.280
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937