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338 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Zur Bestimmung der Profite der Bauern- und Gutsbetriebe müssen die faktischen
Lohnkosten in Relation zur Produktivität der ausländischen Arbeitskräfte gesetzt
werden. Da über die Arbeitsproduktivität in der Land- und Forstwirtschaft, im
Gegensatz zu Industrie und Gewerbe,289 keine zeitgenössischen Untersuchungen
vorliegen, kann sich eine Annäherung an die fiktiven Lohnkosten kaum auf präzise
Zahlen stützen. Auch die Leistungsbewertung der ausländischen Landarbeiter/-
innen in den Stimmungs- und Lageberichten liefert nur vage Anhaltspunkte, weil
sie, wie gezeigt werden konnte, erheblichen zeitlichen und örtlichen Verzerrungen
der Wahrnehmung unterliegt. Wo zwischen dem „ungarischen Juden“, der dem
Landratsbericht zufolge ein Viertel der Leistung eines „Ostarbeiters“ erbringt,
und dem „Ostarbeiter“ Sergej Zakharovich Ragulin, der eigenen Angaben zufolge
als Jugendlicher die Arbeit eines qualifizierten Rossknechtes leistet, ist die Pro-
duktivität der ausländischen Arbeitskräfte in der Land- und Forstwirtschaft zu
verorten ? Zwar können die Einschätzungen der in Industrie und Gewerbe ein-
gesetzten Ausländer/-innen nicht eins zu eins auf die Land- und Forstwirtschaft
übertragen werden ; dennoch bieten die Leistungsbeurteilungen der industriellen
und gewerblichen Arbeitskräfte einige Anhaltspunkte für die Einschätzung der
Arbeitsproduktivität in der Land- und Forstwirtschaft.290 Unter der vorsichtigen
Annahme, dass im Vergleich zu inländischen Arbeitskräften die Leistung von pol-
nischen Zivilarbeiter/-innen etwa 70 bis 90 Prozent, von „Ostarbeitern“ etwa 80
bis 100 Prozent, von „ungarischen Juden“ etwa 40 bis 60 Prozent, von westlichen
Kriegsgefangenen etwa 70 bis 90 Prozent und von sowjetischen Kriegsgefange-
nen etwa 60 bis 80 Prozent betrug,291 stellen sich auf der Basis der gesetzlichen
Basisentlohnung ohne Zuschläge zum Stand von 1944 die fiktiven Lohnkosten
folgendermaßen dar : Die westlichen Kriegsgefangenen stellten die vergleichsweise
billigste Gruppe von Landarbeiter/-innen dar ; sie kosteten wenig und leisteten
viel. „Polen“, „Ostarbeiter“ und sowjetische Kriegsgefangene verursachten für die
Dienstgeber/-innen etwa gleich hohe Kosten ; diese lagen jedoch deutlich unter
jenen der Inländer/-innen. „Ungarische Juden“ kamen unter Einbeziehung ihrer
Überforderung durch land- und forstwirtschaftliche Arbeiten etwa gleich teuer
wie inländische Arbeitskräfte.
Wie sind diese Ergebnisse zu interpretieren ? Diese Modellrechnung beruht auf
den gesetzlichen Lohnsätzen von 1944, die von der tatsächlichen Entlohnung mit-
unter erheblich abwichen. Sie ist als vorsichtige Annäherung an die durchschnitt-
lichen, fiktiven Lohnkosten der jeweiligen Kategorien ausländischer Arbeitskräfte
zu verstehen. In vielen Fällen lagen die faktischen Lohnkosten deutlich niedri-
ger und reichten bisweilen gerade zum nackten Überleben. Die Ergebnisse lassen
keinesfalls die Schlussfolgerung zu, dass Betriebe, die Kategorien von ausländi-
schen Landarbeiter/-innen mit vergleichsweise hohen Lohnkosten, etwa „ungari-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937