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352 „Menschenökonomie“ unter Zwang
Vor diesem Hintergrund hebt sich die tragende Struktur oder, nach Rudolf Gold-
scheid, das „Gerippe“ der staatlichen „Menschenökonomie“ vom ideologischen
Beiwerk ab. Im landwirtschaftlichen „Arbeitseinsatz“ in den Regionen Litschau,
Mank und Matzen 1941 bis 1944 überlagerten sich mehrere Ungleichheiten : Die
zeitliche Ungleichheit lässt sich mit der Lage auf den Kriegsschauplätzen – ver-
mehrte Militäreinberufungen im Zuge des beginnenden Abnützungskrieges gegen
die Sowjetunion 1941/42, verschärfte Zwangsrekrutierungen ausländischer Zivil-
arbeitskräfte im deutschen Machtbereich 1942/43, versiegende Arbeitskraftreser-
ven 1943/44336
– in Zusammenhang bringen. Die räumliche Ungleichheit, die sich
vor allem in den positiven Salden in Matzen und den negativen Salden in Litschau
äußerte, offenbart einmal mehr den Vorrang der intensiven Agrarregionen im öst-
lichen Flach- und Hügelland – der „Kornkammern“ rund um Wien – gegenüber
den extensiver genutzten Landstrichen in Niederdonau. Die agrarsystemische Un-
gleichheit wird an den Zuckerrübenbauern auf der einen, den Arbeiterbauernfamilien
auf der anderen Seite des Spektrums deutlich. Großflächige, hoch technisierte und
stark kommerzialisierte Betriebe wurden im Rahmen des „Arbeitseinsatzes“ in der
Regel besser mit Arbeitskräften versorgt als landarme, wenig technisierte und mehr
auf Selbstversorgung ausgerichtete Betriebe ; freilich bestanden auch Ausnahmen
–
etwa die Maschinenmänner, die trotz ihrer Ähnlichkeit mit den Zuckerrübenbauern
leichte Einbußen an Arbeitskraftpotenzial verzeichneten.
Die Ab- und Zugänge an Arbeitskraft lassen vor allem die äußeren Beziehun-
gen der Höfe zum Behördenapparat des „Arbeitseinsatzes“ erkennen ; die Binnen-
beziehungen in den Betrieben und Haushalten lassen sich damit kaum erfassen.
Die verfügbaren Daten verweisen auf zumindest zwei Unterscheidungen innerhalb
der Höfe : jene zwischen Familien- und Fremdarbeitskräften sowie zwischen stän-
digen und nichtständigen Arbeitskräften (Tabelle 4.15). Auch in dieser Hinsicht
treten zeitliche, räumliche und agrarsystemische Unterschiede hervor : 1942 wur-
den die Verluste an Familienarbeitskräften noch einigermaßen durch Zuweisungen
ständiger Fremdarbeitskräfte kompensiert, wobei Mank ein Defizit und Matzen
einen Überschuss gegenüber 1941 verzeichneten ; nur in Litschau wurden die Ab-
gänge familieneigener Arbeitskräfte kaum ersetzt. Arbeiter-, Wein- und Nebener-
werbsbauernfamilien mussten in beträchtlichem Maß Familienangehörige abgeben,
ohne nennenswerten Ersatz zu erhalten. Dagegen verblieben die Familienangehö-
rigen der Maschinenmänner und Zuckerrübenbauern fast zur Gänze auf den Höfen ;
zudem wurden abgezogene Taglöhner/-innen und Saisonarbeiter/-innen durch
Gesindepersonal ersetzt. 1943 verließen deutlich weniger Familienangehörige die
Höfe als im Jahr zuvor ; durch Neuzugänge an Gesindekräften nahm das Arbeits-
kräftepotenzial in allen drei Regionen sogar zu. Während sich der Abfluss von
Familienarbeitskräften bei Arbeiter- und Nebenerwerbsbauernfamilien fortsetzte,
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937