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405Staatshilfe
als „Auslese“
österreichische Landwirtschaft von der Last der inneren und äußeren Verschul-
dung befreit90 – bestimmte implizit oder explizit auch das wissenschaftliche Ge-
schichtsbild : Die „Entschuldung“ habe „langfristig wesentlich zur Verbesserung
der Agrarstruktur beigetragen“.91 Erst spät wurde die „apologetische“ Tendenz
Lombars betont, ohne jedoch auf dessen Funktion im nationalsozialistischen Ag-
rarapparat hinzuweisen.92 Die affirmative Sichtweise Lombars trennt – gemäß der
Figur des in Normen- und Maßnahmenstaat gespaltenen „Doppelstaats“93 – die
‚positiven‘ und ‚negativen‘ Seiten der NS-Herrschaft im Allgemeinen und recht-
fertigt die Tätigkeit der Landstellen im Besonderen. Ein kritischer Zugriff müsste
die Ambivalenz der NS-Herrschaft im Allgemeinen erfassen und die „Leistungen“
der Landstellen im Besonderen hinterfragen.94 Dieser Anspruch soll an den AGB
Kirchberg an der Pielach, Litschau, Mank und Matzen, denen die Fokusgemein-
den Frankenfels, Heidenreichstein, St. Leonhard am Forst und Auersthal zugehör-
ten, eingelöst werden.95
Verschaffen wir uns zunächst einen Überblick über den Verfahrensablauf am
Fall eines 30-Hektar-Bergbauernhofes in Frankenfels, den Leopold Leitner mit
seiner Ehefrau bewirtschaftete (Abbildung 5.9). Bis Jahresanfang 1939 hatten
sich beträchtliche Zahlungsrückstände angehäuft. Die größte Einzelschuld ver-
ursachte ein 1936 gegebenes und kurz nach dem „Anschluss“ aufgestocktes Dar-
lehen der örtlichen Raiffeisenkasse für Viehankäufe, das mit 466 Reichsmark zu
Buche schlug. Geldaushilfen bei Schadensfällen durch Verwandte, Nachbarn und
Bekannte sowie sonstige Darlehen von Privatpersonen machten zusammen 617
Reichsmark aus. Für bezogene Waren und Dienstleistungen stand der Betriebs-
inhaber bei Kaufleuten, Handwerkern und Händlern aus der näheren Umgebung
mit 408 Reichsmark in der Kreide. Schließlich forderte das Finanzamt Steuerrück-
stände in der Höhe von 87 Reichsmark ein. Leitner reichte im Juli 1938 als erster
Antragsteller seiner Wohngemeinde das entsprechende Antragsformular ein ; dar-
aufhin wurde im September 1938 das Verfahren eröffnet. Nach der Ermittlung des
Schuldenstandes von 1.578 Reichsmark erwirkten die Mitarbeiter der Landstelle
Wien Nachlässe in der Höhe von 124 Reichsmark, wodurch sich die Verpflichtun-
gen auf 1.454 Reichsmark verringerten. Davon wurde das Anstaltsdarlehen in der
Höhe von 460 Reichsmark als unkündbare Forderung mit 4,5 Prozent Verzinsung
und einem Tilgungssatz von 0,5 Prozent im Grundbuch festgeschrieben. Die übri-
gen Gläubigerforderungen wurden durch eine ebenfalls grundbücherlich sicherge-
stellte Entschuldungsrente des Deutschen Reiches mit 3-prozentiger Verzinsung
und 1,5-prozentiger Tilgung in der Höhe von 1.030 Reichsmark abgelöst.
Damit war zwar das Entschuldungs-, aber nicht das gesamte Verfahren ab-
gehandelt. Im Zuge des Aufbauverfahrens erhielt der Betrieb 1.990 Reichsmark
für Gebäudereparaturen, Inventaranschaffungen und Umstellungskosten ; davon
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937