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499Das
agronomische Expertensystem
kann wissenschaftliche Arbeit nur dann der Praxis dienen, wenn sie nicht bloß die
Tagesfragen sieht, sondern immer wieder neue Grundlagen für spätere Probleme auf-
schließt [Hervorhebungen im Original].“16
In dieser Passage kommt ein Spannungsmoment im agronomischen Experten-
system des Forschungsdienstes zur Sprache : Die euphemistisch als „Freiheit der
Wissenschaft“ verbrämte Indienstnahme der Agrarwissenschaften durch das
politisch-ökonomische System untergrub eine Grundlage wissenschaftlicher Pro-
blemlösungskapazität : ein Mindestmaß an Autonomie gegenüber außerwissen-
schaftlicher Steuerung. So gesehen waren die Möglichkeiten des agronomischen
Expertensystems zur Selbststeuerung erheblich eingeschränkt, weil es massiver
Fremdsteuerung vonseiten des politisch-ökonomischen Systems unterlag. Dennoch
gerieten durch die Einverleibung der österreichischen Agrarforschung in den For-
schungsdienst die einzelnen Elemente – Universitätsinstitute, Versuchsanstalten,
Agrarpresseorgane, Bildungs- und Beratungseinrichtungen und so fort – in einen
Gesamtzusammenhang, der den Systemcharakter der agronomischen Wissens-
produktion und -distribution zweifellos verstärkte. Über die Steuerungsmedien
bürokratischer Anweisungen und finanzieller Zuweisungen, die in beträchtlichen
Mengen in die Agrarwissenschaften flossen, vermochte der Forschungsdienst un-
ter der Regie Konrad Meyers Richtung und Ausmaß der wissenschaftlichen Akti-
vitäten entscheidend zu bestimmen.17
Das regional gestreute Netzwerk agrarwissenschaftlicher Forschungseinrich-
tungen auf dem Gebiet der Landesbauernschaft Donauland zu Kriegsbeginn 1939,
nach eineinhalb Jahren des „Aufbaus“, besaß ein klares Zentrum : die um ehemals
niederösterreichische Gemeinden erweiterte Stadt Wien. Die Hochschule für
Bodenkultur, die Tierärztliche Hochschule, die Universität und die Technische
Hochschule beheimateten diverse Institute, Lehrstühle und sonstige Einrichtun-
gen, die agrarwissenschaftlich relevante Forschungen betrieben. Zudem fanden
sich hier zahlreiche außeruniversitäre Forschungsstätten für fast alle Zweige der
Landwirtschaft. An diese inner- und außeruniversitären Einrichtungen waren in
der Umgebung Wiens Versuchswirtschaften und -felder, etwa die Versuchswirt-
schaft Groß- Enzersdorf der Hochschule für Bodenkultur, angeschlossen. Auf der
Verkehrsachse zwischen Wien und Linz formierte sich in den Kreisen Amstet-
ten und Melk ein Agrarforschungscluster. Das Zentrum bildete die Reichsfor-
schungsanstalt für Landwirtschaft im ostmärkischen Donauraum, die das REM
in Säusenstein 1939 einrichtete.18 In nächster Nähe lagen die Staats-Lehr- und
Versuchsanstalt für Milchwirtschaft in Wolfpassing,19 die Obstanlage der Höhe-
ren Staatslehranstalt und Staatsversuchsstation für Wein-, Obst- und Gartenbau
Klosterneuburg in Amstetten20 sowie die an die Landwirtschaftsschulen Gießhübl,
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937