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505Das
agronomische Expertensystem
Was sich auf der ersten Blick als Variation der „Blut und Boden“-Ideologie liest,
erscheint bei näherer Betrachtung als Appell, den eingeschränkten Horizont des
schollenverhafteten „Bauern“ aufzubrechen und dem politisch-ökonomischen
Projekt des NS-Systems zugänglich zu machen – kurz, die „Hofgemeinschaft“ zu
vergesellschaften. Demgemäß enthielt die Broschüre auch Abschnitte über Ernäh-
rungssicherung, „Erzeugungsschlacht“ und „Marktordnung“.53
Die Landesbauernschaft Donauland richtete in Urspitz, Kreis Nikolsburg, eine
Bauernschule ein und hielt dort Jungbauern- und Jungbäuerinnenkurse ab. Doch
bereits 1940 wurde der Betrieb für die Kriegsdauer eingestellt ; daher mussten die
Schulungen ehrenamtlicher Bauernführer/-innen, an denen bis zum Jahresende
1940 1.639 Personen teilnahmen, an anderen Orten stattfinden.54 Der Fall Ur-
spitz war symptomatisch für die Gesamtheit der Bauernschulen, deren Trägerschaft
während des Krieges vom Reichsnährstand an das Reichsamt für das Landvolk der
NSDAP überging und zunehmend für Wehrmachtszwecke genutzt wurde.55 Die
Erfordernisse der „Kriegserzeugungsschlacht“ verschoben die Gewichte zu den
landwirtschaftlichen Fachschulen. Doch insgesamt rückten mit Kriegsbeginn die
Fragen der landwirtschaftlichen Schulbildung „in die zweite Reihe“.56 Die Zahlen
der Landwirtschaftsschüler/-innen konnten kaum gesteigert werden, weil wegen der
Arbeitskräfteknappheit „die Kinder als Arbeitskräfte unentbehrlich wurden und da-
her nicht in die Schule geschickt werden konnten“.57 Zudem litten die Land- und
Hauswirtschaftsschulen, deren Lehrpläne nach Geschlechtern und Betriebszweigen
unterschiedlich ausgerichtet waren, zunehmend unter Mangel an Lehrpersonal.58
Einjährige Landwirtschaftsschulen des Reichsnährstandes bestanden in Niederdo-
nau in Gaming, Gmünd und Melk, in Oberdonau in Bad Ischl, Freistadt und Wey-
regg.59 Das Gros der Landwirtschaftsschulen unterstand der Behörde des Reichs-
statthalters. Allein in Niederdonau existierten 18 einjährige Lehranstalten für die
männliche, drei einjährige Lehranstalten und neun Winterschulen für die weibliche
Jugend ; an zweijährigen Lehranstalten standen fünf für Burschen, eine für Mädchen
zur Verfügung ; höhere Lehranstalten wurden für die männliche Jugend in Eisgrub,
Kreis Nikolsburg, und Wieselburg an der Erlauf, Kreis Scheibbs, für die weibliche
Jugend in Tullnerbach-Lawies, Kreis St. Pölten, geführt.60 Gleichzeitig mit dem
Bedeutungsverlust der Schulausbildung wurde für Jugendliche der Abschluss einer
landwirtschaftlichen Lehre propagiert ; damit sollte die Professionalisierung der
Landwirtschaft als „Beruf“ vorangetrieben werden. Nach anfänglichen Erfolgsmel-
dungen über steigende Lehrlingszahlen in der Landesbauernschaft Donauland61
wurden Appelle wie jener Herbert Backes zur Jahreswende 1942/43 für das „ländli-
che Berufserziehungswerk“, um landwirtschaftlich fachkundige und bäuerlich ein-
gestellte Siedler für die „wirtschaftliche und blutsmäßige Durchsetzung der neuen
Lebensräume“ im Osten zu gewinnen,62 mehr und mehr zur hohlen Phrase.
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937