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544 Das „Landvolk“ und seine Meister
an den Landrat in St. Pölten, abgeschickt. Im ersten Schreiben vom 1. März 1941
beschwerte er sich über die Anhebung der Grundsteuer, die besonders die Bau-
ern im Gebirge massiv benachteilige ; in ausschweifenden Schilderungen beleuch-
tete er deren ungünstige Produktionsvoraussetzungen, beschwerliche Arbeit und
schlechte Einkommenslage.204 Im zweiten Brief vom 3. März 1941 intervenierte er
für drei Familien um die Zuerkennung einer Beihilfe : für eine achtköpfige Bauern-
familie, der ein Unterhaltsbeitrag für den gefallenen Sohn gestrichen worden sei ;
für einen gebrechlichen Bauern, dessen beiden Söhne zur Wehrmacht eingezogen
worden seien ; schließlich für die Frau des Gemeindesekretärs, die sich in ärztli-
cher Behandlung befinde.205 Daraufhin erhielt der Bauer eine Vorladung zu ei-
nem Sprechtag des Landrates, Kreisleiters und Kreisbauernführers in Kirchberg an
der Pielach, „um Bitten und Beschwerden der Volksgenossen aus dem Pielachtale
entgegen zu nehmen“.206 Der Landrat notierte in einem handschriftlichen Akten-
vermerk, dass der Fall anlässlich dieser Aussprache „erledigt“ werden konnte. Der
Bauer hatte das Versprechen abgegeben, Bitten und Beschwerden in Hinkunft an
die jeweils untersten Behörden zu richten. Damit wurde der Akt zum „Fall Leit-
ner“ für die Behörden geschlossen.207 Öffnen wir ihn, um die darin enthaltenen
Spuren neu zu lesen.
Nach einer ersten Lektüre lassen sich die drei Schreiben dem Genre der Bitt-
und Beschwerdebriefe an Amtsträger als Medium politischer Partizipation208 zu-
ordnen, wobei unterschiedliche Schreibanlässe vorlagen : Im zweiten Schreiben
ging es um ein eher allgemeines Problem, die Besteuerung land- und forstwirt-
schaftlichen Grundbesitzes ; das dritte Schreiben erbat Unterstützung für drei
Sonderfälle von in Notlage geratenen Familien ; der Anlass für das erste Schreiben,
der Entzug staatlicher Sozialleistungen an Alkoholiker, lag irgendwo dazwischen.
Die unterschiedlichen Anliegen bezogen sich jedoch allesamt auf eine gemeinsame
Vorstellung über das Verhältnis von „Volk“ und Staat. Zur Debatte standen jeweils
die Geldflüsse zwischen dem besteuernden und fürsorgenden „Führerstaat“ auf der
einen Seite, den besteuerten und versorgten Gruppen der deutschen (Land-)Bevöl-
kerung auf der anderer Seite oder, kurz, die moralische Ökonomie der staatlichen
Umverteilung : die ‚gerechte‘ Verteilung der bäuerlichen Steuerlasten, die ‚gerechte‘
Unterstützung in Not geratener Familien, ‚gerechte‘ Sanktionen gegen den Miss-
brauch von Sozialleistungen. Gemeinsamer Fluchtpunkt der unterschiedlichen
Anliegen, die der Bittsteller und Beschwerdeführer in seinen Briefen vorbrachte,
war die Vorstellung einer „Volksgemeinschaft“, an dessen Spitze der „Führer“ mit
seinen Amtsträgern auf nationaler, regionaler und lokaler Ebene über die ‚gerechte‘
Verteilung der finanziellen Lasten und Leistungen – kurz, über die Wohlfahrt der
„Volksgenossen“ – wachte. In den Briefen Leitners war der Konflikt zwischen Na-
tionalsozialismus und „bäuerlich-katholischem Milieu“209 – die Entfernung der
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937