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547Die
imaginierte „Volksgemeinschaft“
Äußerung : „I spür nix, daß besser ist“, die Leistungen des nationalsozialistischen
Regimes öffentlich infrage gestellt. In weitschweifigen Ausführungen versucht der
Text, die aufrührerischen Worte zu widerlegen, um dem „böswilligen Systemling“
zu „sagen, was wahr ist“.219 Ob diese Worte tatsächlich ausgesprochen oder vom
Artikelschreiber nur inszeniert wurden, ist nicht nur ungewiss, sondern für die
daran anschließende Kommunikation belanglos. Nun, da die Aussage schwarz auf
weiß gedruckt war, erschien sie dem dörflichen Publikum als Tatsache, die auf viel-
fältige Weise lesbar war. Zur Debatte stand die Frage, wie sich ein „ehrenhafter
Bauer“ verhalten könne, solle und müsse ; und der Artikel gab dazu eine klare Ant-
wort : Wer die wohlfahrtsstaatlichen Leistungen des Nationalsozialismus bestreite,
stelle sich außerhalb der „Volksgemeinschaft“ – dies umso mehr, als man als Bauer
selbst Nutznießer dieser Leistungen, etwa der Erhöhung der Agrargüterpreise, sei.
An diesem Artikel lässt sich die Scharnierfunktion der populären Presse für
die Kommunikation in der ländlichen Gesellschaft erkennen. Die Regionalzeitung
agierte als Übersetzerin zwischen den Codes von Spezial- und Alltagsdiskursen.
Zum einen decodierte sie Aussagen des bäuerlichen Alltagsdiskurses, etwa : „I spür
nix, daß besser ist“, um diese im Sinn des Spezialdiskurses als „Böswilligkeit“ eines
„Systemlings“ zu codieren. Zum anderen decodierte sie Aussagen des Spezialdis-
kurses, etwa über die „Volksgemeinschaft“, und codierte sie im Sinn des Alltags-
diskurses als Geschichte der mildtätigen Bauernfamilie, die während der Krise
der 1930er Jahre an die bettelnd herumziehenden „Tausende[n] von hungernden
Arbeitern“ Almosen verteilte.220 Auf diese Weise vermittelte der Interdiskurs der
Regionalpresse zwischen Spezial- und Alltagsdiskurs, ohne gänzlich im einen oder
anderen aufzugehen. Darin überlagerten sich Aussagen verschiedener Herkunft zu
mehrdeutigen Codes, welche die Kluft zwischen der Fachsprache der Wenigen und
der alltäglichen Rede der Vielen zu überbrücken vermochten.221
Doch hinter den schwarz auf weiß sichtbaren Worten stand nicht nur das Ge-
wicht des gedruckten Worts, sondern auch das Gewicht der Verfasser/-innen.222
Während der übergreifende Teil der St. Pöltner Zeitung durchwegs von Berufs-
journalisten gestaltet wurde, hatten im Lokalteil Informanten und Informantin-
nen aus den Gemeinden das Sagen. Nach der nationalsozialistischen „Gleich-
schaltung“ des bis dahin christlichsozial orientierten Blattes wurde die St. Pöltner
Zeitung zum Sprachrohr der lokalen NS-Elite : NSDAP-Ortsgruppenleiter, Bür-
germeister, Ortsbauernführer, NS-Frauenschafts-Führerin, Hitlerjugend-Führer
und so fort.223 Als Sprecher/-innen in der dörflichen Öffentlichkeit nahmen die
Artikelschreiber/-innen jedoch eine zwiespältige Position ein :224 Einerseits ver-
fügten viele von ihnen als Angehörige der Dorfintelligenz über jenes Maß an
Bildungskapital, das ihnen – etwa dem NSDAP-Ortsgruppenleiter als weithin
geschätzten Dorfschullehrer, dem Gemeindesekretär als Helfer im Umgang mit
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937