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556 Das „Landvolk“ und seine Meister
Aufbaumaßnahmen im Gebirge geringen Erfolg attestierte sowie Missstände wie
Steuerlast, Arbeitskräftemangel, Geldnot, Mangel an Bekleidung oder nachhin-
kende Mechanisierung beklagte. Die Identitätskonstruktion des meckernden, aber
pflichtbewussten Gebirgsbauern stützte sich auf eine zweifache, allerdings schwächer
ausgeprägte Differenz : einerseits zur „Arbeiterschaft“, der im Gegensatz zu „unse-
ren ärmeren Gebirgsbauern“ bei „sparsamer Wirtschaftsführung“ ein erträgliches
Auskommen möglich sei ; andererseits zu den „Landbauern“ im Flachland, die im
Vergleich zum „steilen abschüssigen Terein“ der Bergbauern, wodurch die „Ma-
schinenarbeit nicht möglich ist“, günstigere Bedingungen vorfänden (Abbildung
6.7). Leitners Eigensinn beim Schreiben seiner Briefe knüpfte teils an die Sprach-
regelung der NS-Dorfelite an, teils hob er sich davon ab. Er pendelte zwischen
einem angepasstem und einem oppositionellem Code : Auf die Anerkennung der
geltenden Norm
– die Behebung des Arbeitskräftemangels, die Steueraufbringung,
die Opferbereitschaft der Bevölkerung – folgt stets die Kritik einer problemati-
schen Praxis – die Hilflosigkeit der Behörden, die überzogene Steuerlast, die Ver-
schuldung der Betriebe.240
Die eigensinnige Weise, in der Leitner die Vergangenheit (re-)konstruierte, ver-
wies in der Gegenwart von 1941 auf eine Zukunftsvorstellung. Im Hintergrund
mochte Ernüchterung über leere Versprechungen des NS-Regimes für die ost-
märkische (Berg-)Bauernschaft mitgeschwungen haben. Vordergründig zeichnete
der Briefschreiber das Schreckgespenst, die Bergbauernbetriebe würden „durch
Überlastung zugrundegerichtet“. Dieses regionale Problem verknüpfte er mit dem
gesamtstaatlichen Problem der Ernährungswirtschaft : „Kurz zusamengefaßt, Ver-
elendung unserer Gebirgsbevölkerung und Vernachlässigung unserer Wirtschaf-
ten, ist dann ein großer Schaden der Volksernährung.“ Dieser Erwartungshorizont
zog die Grenzen, in denen der Erfahrungsraum Gestalt annahm. Der Briefschrei-
ber bezog sich weniger – wie es der Interdiskurs der dörflichen NS-Elite nahe-
legte – auf die unmittelbare Vergangenheit der „Systemzeit“ ; die Kontrastfolie zur
NS-Ära bildet vielmehr der Erste Weltkrieg. Trotz der „beim Weltkriege noch
größere[n] Lasten“ hätten die Hofbesitzer/-innen die damaligen Einschränkungen
besser verkraften können. Demgegenüber verfügten die Bauern im „jetzigen Krieg“
in zweifacher Hinsicht über einen schlechteren Stand : Zwar verwies er auf die
„ganz mißerable Wirtschaftslage“ der „Gebirgsbevölkerung“ in der „Systemzeit“.
Doch zugleich entzauberte er den propagandistisch überhöhten nationalsozialisti-
schen „Aufbau“ der österreichischen Landwirtschaft. Indem Leitner im Vergleich
zum „Weltkrieg“ für den „jetzigen Krieg“ eine Verschlechterung der bäuerlichen
Lage feststellte, traf er einen wunden Punkt der offiziellen Sprachregelung, die ge-
rade die Unvergleichbarkeit des damaligen Chaos mit der nunmehrigen Ordnung
behauptete.241
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937