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606 Ordnung und Chaos des Marktes
Konrad Oberhuber führte mit seiner Ehefrau in Inzersdorf, Kreis St. Pölten,
einen Landwirtschaftsbetrieb ; das Viehhändlergewerbe übte er nicht mehr aus,
und seine Gastwirtschaft im Wohnort hatte er verpachtet. 1940 kaufte er von zwei
bäuerlichen Betriebsbesitzern aus umliegenden Ortschaften sieben Schweine, die
er „schwarz“ schlachtete. Das Selchfleisch, dessen Menge das Gericht auf 390 Ki-
logramm schätzte, wurde über Vermittlung eines Brüderpaares aus der engeren
Umgebung an zwei Gastwirte und einen Hilfsarbeiter im etwa 50 Kilometer ent-
fernten Wien zu überhöhten Preisen verkauft. Hinzu kamen weitere Abnehmer/-
innen, darunter eine Gasthauspächterin, vermutlich die Pächterin seines Gast-
hauses, aus dem Wohnort (Abbildung 7.6). Dieses Beziehungsgeflecht zeigt ein
charakteristisches Merkmal von „Schleichhandels“-Netzwerken : den Vertrieb der
Produkte über dem Verkäufer persönlich bekannte Vermittler, die Kontakte zu
Käufern außerhalb seines Bekanntenkreises herstellten. Wahrscheinlich waren es
diese Schlüsselpersonen, die Oberhuber nach seiner Verhaftung mittels eines Brie-
fes über seine Version der Tatgeschichte instruieren wollte ; doch das Schriftstück
wurde ihm abgenommen und diente in der Hauptverhandlung als Belastungsbe-
weis.111
Im zweiten Fall war ein Bauernehepaar, Franz und Aloisia Locher aus Prein-
reichs, Kreis Zwettl, in ein umfassendes Tauschnetzwerk für Rind- und Schwei-
nefleisch verstrickt (Abbildung 7.7). Der zentrale Akteur war jedoch ein Woh-
nungsmieter des Paares, der sich als Hilfsarbeiter auf dem Truppenübungsplatz
Döllersheim verdingte. 1941 und 1942 kaufte der Hilfsarbeiter von drei Klein-
häuslerpaaren aus einer Nachbargemeinde zu überhöhten Preisen Fleisch und Fett,
das teils aus „Schwarzschlachtungen“ – vielfach unter seiner Mitwirkung –, teils
aus genehmigten Hausschlachtungen stammte. Die Männer dieser Haushalte, al-
lesamt Bedienstete beim Heeresforstamt auf dem Truppenübungsplatz Döllers-
heim, kannte er von der Arbeit her. Auch seine Vermieter schlachteten ein Schwein
„schwarz“ und veräußerten ihm eine kleinere Fleischmenge. Schließlich erwarb
er weiteres Fleisch von zwei Bauern aus der Umgebung. Insgesamt wurden dem
Hilfsarbeiter die Mitwirkung an der „Schwarzschlachtung“ von vier Schweinen
und zwei Kälbern mit einem Fleischgewicht von 358 Kilogramm sowie der unbe-
fugte Bezug von 110 Kilogramm Schweine- und Selchfleisch und 10 Kilogramm
Schweinefett nachgewiesen. Die bezogenen Fleisch- und Fettwaren setzte er in
kleineren Mengen in der näheren Umgebung ab : an einen Fuhrwerksunterneh-
mer und dessen Bediensteten, einen Kellner, einen Hilfsarbeiter, einen Baupolier,
einen Schrankenwärter und einen weiteren Abnehmer. Der Großteil aber floss an
einen Wiener „Schleichhändler“, der dem Hilfsarbeiter wiederholt Produkte zu
überhöhten Preisen abkaufte. Das Ehepaar Locher kam häufig, meist nach den
„Schwarzschlachtungen“, in den Genuss geschenkten Kalb- und Rindfleisches, das
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937