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610 Ordnung und Chaos des Marktes
delsbeziehungen zu einem professionellen „Schleichhändler“ pflegte. Im dritten
Fall verteilte sich die Vermittlerfunktion auf unterschiedliche Akteure : den über-
geordneten Makler, der die Logistik des Handelsnetzwerkes vor Ort koordinierte
und die „Schwarzwaren“ überregional weiterhandelte, sowie die untergeordneten
Makler, die ihre alltäglichen Beziehungen zu den bäuerlichen Viehbesitzern und
-besitzerinnen in den Dienst des Netzwerks stellten.
In allen Fällen, auch im hochprofessionellen Netzwerk des Unteroffiziers, wa-
ren anonyme Marktbeziehungen mit persönlich nicht bekannten Akteuren für
die bäuerlichen Schleichhändler die Ausnahme. In der Regel veräußerten die bäu-
erlichen Erzeuger/-innen jene Produkte, die sie häufig mit Mehrgewinn an der
staatlichen Marktordnung vorbeischleusten, an Personen aus ihrem alltäglichen
Erfahrungsbereich – mithin an Akteure, die aufgrund ihrer Vertrauenswürdig-
keit das mit der Schattenwirtschaft verbundene Strafrisiko verringerten. Ländli-
che „Schleichhandels“-Netzwerke bestanden meist aus multiplexen Beziehungen,
die mehrere Arten von Verhältnissen – Verwandtschaft, Nachbarschaft, Kredit,
Tausch von Produkten und Dienstleistungen und so fort – bündelten. Die „radi-
kale Markterfahrung“ der Konsumenten und Konsumentinnen auf dem großstäd-
tischen „Schwarzmarkt“, die wegen des extremen Risikos durch eine „Kultur des
Misstrauens“ geprägt war,115 bildete auf der Produktionsseite der Schattenwirt-
schaft im ländlichen Hinterland der Großstadt Wien kein vorherrschendes Er-
fahrungsmuster. Für die bäuerlichen Produzenten und Produzentinnen „schwarz“
gehandelter Nahrungsmittel überwog vielmehr eine alltagsweltlich eingebettete
Markterfahrung, die auf einer aus alltäglichen Beziehungen gespeisten Vertrau-
ensbasis beruhte. Freilich entzündeten sich innerhalb dieser Netzwerke immer
wieder Konflikte, die zum folgenreichsten Vertrauensbruch – der Denunziation
durch eine Anzeige bei den Behörden – führen konnten. Es bedurfte daher stets
der Abwägung, wem man vertrauen konnte und vor wem man etwas verheimlichen
musste
– etwa im Umgang mit ausländischen Arbeitskräften am Hof, die fallweise
als Komplizen, fallweise als Denunzianten auftraten.116
Ob bäuerliche Schleichhändler durch Denunziationen ‚von innen‘ oder polizeili-
che Ermittlungen ‚von außen‘ enttarnt wurden : Jedenfalls trugen sie ein größeres
Risiko, eine Zuchthaus- anstatt einer Gefängnisstrafe zu erhalten, als die bäuerli-
chen Schwarzschlächter. Voraussetzung für die Verhängung einer Zuchthausstrafe
war der Nachweis eines schweren Verbrechens gegen die KWVO, meist gekoppelt
mit einem nachgewiesenen Vergehen gegen die Preisvorschriften ; dazu bedurfte
es der Positionierung des oder der Angeklagten als „Kriegsschieber“. Dies vermied
das Gericht bei Andreas Kobilic, unter anderem wegen der erwiesenen Notlage,
und in anderen Fällen einer „wirtschaftlich bedrängte[n] Lage“117. Zudem werte-
ten die Richter bei weiblichen „Betriebsführerinnen“, der Regel der männlichen
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937