Page - 613 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Image of the Page - 613 -
Text of the Page - 613 -
613Öffentliche
Bewirtschaftung, privates Wirtschaften
gehen gegen die VRStVO als erwiesen.134 Vor diesem Hintergrund hatte auch die
Gnadenbitte, die mit Verweis auf die angeschlagene Gesundheit des Verurteilten
und die Bedeutung des von ihm geleiteten Gutsbetriebs für die Ernährungswirt-
schaft eingebracht wurde, Erfolg. Die Strafe wurde mit dreijähriger Bewährungs-
frist und unter der Auflage, die Eierablieferungsmenge zu steigern, ausgesetzt.135
Was die Eigenart dieses Falles sowie der gesamten Gruppe der bediensteten Ge-
treideverfütterer ausmachte, kann am besten negativ bestimmt werden : das, was
den übrigen drei Gruppen nicht eigen war, das Nicht-Bäuerliche. Positiv ausge-
drückt, die Verurteilten waren großteils vergleichsweise besitzlos, unselbstständig,
jung, weiblich und unverheiratet. Teils handelte es sich um Personen auf den un-
teren Rängen der ländlichen Gesellschaft : junge Landarbeiter/-innen, verwitwete
Kleinhäusler/-innen, ledige Bauernsöhne und -töchter. Teils fanden sich darun-
ter Gutsverwalter wie Kappler, die den fehlenden Landbesitz mit der erworbe-
nen Fachausbildung aufwogen. Die Produkte, die der Bewirtschaftung entzogen
wurden, umfassten, negativ bestimmt, alles außer Fleisch oder, positiv ausgedrückt,
Getreide, Gemüse, Kartoffeln, Milch und anderes. Damit im Zusammenhang
waren in dieser Gruppe nicht das Massendelikt „Schwarzschlachtung“, sondern
„Schleichhandel“ und verbotene Verfütterung häufig vertreten. Diese Delikte wur-
den häufig als leichtere Verstöße gegen die Bewirtschaftungsvorschriften gewertet
und lediglich aufgrund der VRStVO geahndet. Die unterschiedliche Urteilspraxis
war offenbar auch in der Landbevölkerung weithin bekannt ; denn im Fall eines
Betriebsbesitzers, der 600 Kilogramm Brotgetreide verbotenerweise verfüttert
hatte, sah sich das Sondergericht zur Stellungnahme gegen dieses Erfahrungswis-
sen veranlasst :
„Diese Gefahr [der Verleitung anderer Betriebsleiter/-innen] ist umso größer, als in
weiten Teilen der Bevölkerung die Auffassung vorherrscht, als sei die Zwangsbewirt-
schaftung für Getreide, die die Staatsführung aus wohlerwogenen Gründen einge-
führt hat, nicht so ernst zu nehmen als wie etwa bei Fleisch und Fett. Dem ist aber
nicht so. Gerade das Brotgetreide stellt den Kern der Ernährung des Volkes dar und
darf durch unzulässige Verfütterung an das Vieh nicht verschleudert werden, soll die
von der Staatsführung genau berechnete Ernährungsgrundlage auf dem Gebiete der
Getreidebewirtschaftung nicht erschüttert werden. Und das würde der Fall sein, wenn
das Beispiel, das der Angeklagte gegeben hat, in weiten Kreisen der Bauern Schule
machen würde.“136
Die Sondergerichte nahmen in Urteilen gegen bedienstete Getreideverfütterer
durchaus Bezug auf das „Rechtsempfinden“ der Bevölkerung, etwa hinsichtlich der
späten Übernahme der deutschen Rechtsnormen in der Ostmark. Im Fall einer
back to the
book Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945"
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937