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614 Ordnung und Chaos des Marktes
Bäuerin, die 1940 verbotenerweise Eier an einen Bäckereibetrieb verkauft hatte,
wurde als mildernd gewertet,
„[…] daß es sich um Verfehlungen in der ersten Zeit des Krieges handelt, da in ei-
nem Großteil der Bevölkerung, insbesondere in der Bevölkerung der Ostmark, die ja
nur verhältnismäßig kurze Zeit zur Verfügung hatte, sich von den Gedankengängen
des liberalistischen Staates auf die Forderung des nationalsozialistischen Volksstaates
umzustellen, die Verwerflichkeit derartiger Kriegswirtschaftsverbrechen noch nicht
restlos erkannt worden war und die Kriegswirtschaftsbestimmungen sich noch nicht
reibungslos eingestellt hatten.“137
Noch für einen um Monate späteren Tatzeitpunkt erhielt eine Bäuerin, die das
Fleisch eines durch ihren Ehemann „schwarz“ geschlachteten Schweines im Haus-
halt verarbeitet hatte, diesen Milderungsgrund zugestanden : „Endlich war zu be-
denken, daß die Tat bereits um die Jahreswende 1941/42 begangen wurde, also zu
einer Zeit, in der die Wichtigkeit der Rationierungsmaßnahmen noch nicht so klar
–
wie heute – bis in das letzte Dorf gedrungen war.“138 Diese juristische Argumenta-
tionsfigur bezog sich auf die Tatsache, dass das Kriegswirtschaftsrecht vormals all-
tägliche Praktiken in bäuerlichen Betrieben und Haushalten
– etwa den Eierverkauf,
die Mithilfe beim Schweineschlachten, das Verfüttern überschüssigen Weizens oder
Roggens – kriminalisierte. Dass die Sondergerichte diesen Milderungsgrund häufig
weiblichen Angeklagten zuerkannten, lässt einmal mehr auf eine von Geschlechter-
vorstellungen geprägte Urteilspraxis schließen : Wie die Betriebsleitung war auch die
damit verbundene Kenntnis des Kriegswirtschaftsrechts vor allem Männern zuge-
dacht ; für Frauen in Leitungsfunktionen galt daher ein milderer Maßstab.
Frau-Sein war jedoch kein allgemeingültiger Milderungsgrund. Im Fall ei-
ner Landarbeiterin, die 1943 eine halbe Tonne Weizen als Gegenleistung für
ein Darlehen an einen Betriebsbesitzer erworben hatte und, so die Annahme,
im „Schleichhandel“ abzusetzen beabsichtigte, wog eine andere Unterscheidung
schwerer als das Geschlecht : die „Rasse“. Neben dem „Ruf einer gewerbsmäßigen
Hamsterin und Schleichhändlerin“ wurde der Angeklagten ein als „Anlagemin-
derwertigkeit“ bezeichnetes „rassisches“ Defizit als „Mischling 2. Grades“ – ihr
Großvater galt den Nürnberger Rassegesetzen zufolge als „Volljude“ – angelastet.
Obwohl ihr kein „Schleichhandel“ nachgewiesen werden konnte, erhielt sie wegen
Verbrechens gegen die KWVO mit 18 Monaten Zuchthaus eine höhere Strafe als
der Betriebsbesitzer mit zwölf Monaten Zuchthaus. Das Urteil war wohl durch
die allgemeine Radikalisierung der sondergerichtlichen Spruchpraxis mit zuneh-
mender Kriegsdauer beeinflusst ; insbesondere radikalisiert wurde es aber durch die
rassistisch angeleitete Strafbemessung gegen die „Vierteljüdin“.139
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937