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616 Ordnung und Chaos des Marktes
Die Amtssprache der Urteilsschrift bezeichnet hier ein Arsenal von Denk- und
Handlungsweisen, die gewiss dem Kalkül des Angeklagten und dessen Rechts-
anwalts zur Verteidigung vor Gericht entsprangen ; darüber nimmt sie aber auch
Bezug auf alltägliche, in der dörflichen Moralökonomie weithin anerkannte Prak-
tiken : das wechselseitige Zugestehen von Vergünstigungen unter Ortsansässigen,
die Ansprüche von Kindern und Bediensteten auf angemessene Beköstigung von-
seiten der Eltern und Dienstgeber/-innen, die Orientierung der lokalen Funk-
tionsträger am eingeschliffenen, von der Gemeindebevölkerung eingeforderten
Entgegenkommen bei Amtshandlungen. Diese allgemein wirksame dörfliche Be-
ziehungskultur hatte im vorliegenden Fall besonderes Gewicht, weil Zehner als
Inhaber eines Wagnereibetriebes wohl auch auf die Interessen seiner bäuerlichen
Kundschaft Rücksicht nahm – oder nehmen musste.
Bäuerliche Betriebsinhaber/-innen forderten die Rücksichtnahme auf ihre In-
teressen von den Amtsträgern mitunter vehement ein, wie etwa im Fall eines zum
amtlichen Wieger bei Hausschlachtungen bestellten Kleinhäuslers in mehreren
Gemeinden im Kreis Melk deutlich wird : Der Wieger hatte Viehbesitzer/-innen
vor dem Abwiegen geschlachteter Rinder ermächtigt, die größeren Knochen her-
auszulösen ; zudem setzte er das danach ermittelte Gewicht erheblich herab. Das
Sondergericht anerkannte das Argument, „wonach er infolge mangelnder Wider-
standskraft gegenüber den drei Landwirten die Tat begangen hat“.142 In diesem
Fall kamen alltägliche Abhängigkeitsverhältnisse, wie sie zwischen Bauern- und
Kleinhäuslerhaushalten bestanden, in der Amtshandlung zur Wirkung. Doch
auch unter ihresgleichen setzte die lokale Bauernschaft Amtsorgane gehörig unter
Druck, so etwa im Fall des Bürgermeisters von Gnadendorf, Kreis Mistelbach, der
der NSDAP angehörte und einen mittelbäuerlichen Betrieb besaß. Als amtlicher
Wieger rundete er bei Dutzenden von Fleischbeschauen die Schlachtgewichte
nach unten ab, schätzte anstatt einer Verwiegung die Gewichte großzügig und
rechnete nur eine Schweinehälfte an. Auf diese Weise entzog er etwa eine Tonne
Fleisch der Bewirtschaftung. Dem Urteil zufolge habe der Verurteilte keinen per-
sönlichen Nutzen aus der Tat gezogen ; jedoch habe ihm die „moralische Kraft
[…], den Antragstellern gegenüber festzubleiben“, gefehlt.143
Die Moral, von der hier die Rede war, bezog sich auf die staatlichen, vom Son-
dergericht sanktionierten Kriegswirtschaftsbestimmungen. In den aktenmäßig
dokumentierten Alltagspraktiken äußert sich hingegen eine der dörflichen Be-
ziehungskultur eigene Wirtschaftsmoral, die weniger materielle, als symbolische
Macht entfaltete. Der Bürgermeister von Zurndorf, Kreis Bruck an der Leitha,
zugleich Betriebsbesitzer und NSDAP-Mitglied, brachte es auf den Punkt : Es sei
„bei ihnen am Lande eben nicht anders gegangen“. „Nicht anders gegangen“ hieß
in diesem Fall, bei der Verwiegung der Schlachttiere ein „Auge zu[zu]drücken“,
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937