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619Öffentliche
Bewirtschaftung, privates Wirtschaften
gen – auch gegenläufig dazu, ‚von unten nach oben‘ sowie quer dazu wirksam. Die
„Mikrophysik der Macht“150 durchdrang alle Beziehungen zwischen den Akteuren,
welche Positionen sie im gesellschaftlichen Kräftefeld auch einnahmen. Zweitens
kann das bäuerlich-katholische Milieu nicht auf eine Barriere gegen die Kolonia-
lisierung der Alltagswelt durch das NS-System reduziert werden. Darüber hinaus
bot es den Kolonisatoren – etwa über das Prestige, über das dem Milieu angehö-
rige Amtsträger vor Ort verfügten – auch Andockstellen. Drittens war die Macht,
welche Akteure im bäuerlich-katholischen Milieu entfalteten, nicht immer gegen
die nationalsozialistische Herrschaft gerichtet, sondern stand manchmal – etwa
im Fall von Denunziationen – auch damit in Verbindung. Ländlicher Eigensinn
konnte regimegegnerische wie auch -konforme Wirkung entfalten.
Diese Gegenargumente zum „Resistenz“-Modell lassen sich an den vier Stilen
ländlicher Schattenwirtschaft in Niederdonau belegen. Wie die Gruppe der
bäuer lichen Schwarzschlächter zeigt, erforderte eine „Schwarzschlachtung“ – als
Lösungs versuch des teils behördlich, teils alltagsweltlich bedingten Fleisch- und
Fettproblems bäuerlicher Haushalte – ein gewisses Maß an Vertrauen oder, wenn
dieses nicht gegeben war, die Verheimlichung ; sie bedurfte einer Ökonomie des
Vertrauens. Die Entscheidung, welcher Person man Vertrauen schenkte und wel-
cher nicht, entschied auch über das Risiko, ob die Wirtschaftspraxis abseits der
Norm von den Behörden aufgedeckt werden konnte. Denn vielfach erfolgten
Anzeigen durch Mitwisser/-innen oder Mittäter/-innen, die auf diese Weise den
behördlichen Machtapparat nutzten, um in ihrem Sinn Macht auszuüben.151 So
gesehen ermöglichte die Ökonomie des Vertrauens in und zwischen bäuerlichen
Haushalten zugleich die Verhüllung wie die Aufdeckung abweichenden Verhal-
tens. Diese Einsicht lässt sich an den Gruppen der bäuerlichen „Schleichhändler“
und Getreideverfütterer hinsichtlich personaler Netzwerke vertiefen : Ländliche
„Schleichhandels“-Netzwerke mit multifunktionalen Beziehungen waren darauf
ausgelegt, interpersonales Vertrauen für den verbotenen, aber gewinnträchtigen
überregionalen Handel mit bewirtschafteten Nahrungsmitteln über mehrere Kno-
ten hinweg nutzbar zu machen. Mit wachsendem Umfang des Gesamtnetzwerks
wuchs aber auch das Risiko des Vertrauensbruchs durch einzelne Akteure – und
damit des Zugriffs der Behörden. An der Gruppe der bäuerlich-amtlichen Falsch-
melder können wir diese Betrachtung schließlich von den Angehörigen landwirt-
schaftlicher Betriebe und Haushalte auf die lokalen Amtsträger in ihrer Doppel-
funktion als Vertreter staatlicher und bäuerlicher Interessen erweitern : Was aus der
Perspektive des Systems als „Amtsmissbrauch“ erschien, galt aus alltagsweltlicher
Sicht als moralisch unumgängliches Entgegenkommen bei Amtshandlungen. Dass
das Pendeln lokaler Bauernfunktionäre zwischen staatlichen und bäuerlichen Inte-
ressen vonseiten der Sondergerichtsbarkeit zwar verfolgt, vonseiten regionaler Be-
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937