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652 Ordnung und Chaos des Marktes
der Felder sollten die Befruchtung fördern, aber auch den Rapsglanzkäfer an sei-
nem zerstörerischen Werk hindern ; zudem müssten Schädlinge mechanisch und
chemisch, durch Fanggeräte und „Giftmittel“, rechtzeitig bekämpft werden ; die
Pflanze zeige ihr Reifestadium durch eine eigene Färbung an ; die Ernte solle bei
entsprechender Wahl des Zeitpunkts mit dem arbeitssparenden Bindemäher, bei
Überreife mit Sense oder Sichel
– in jedem Fall aber „zeitlich am Morgen“
– erfol-
gen ; die Garben müssten zum Nachreifen auf dem Feld in Puppenform aufgestellt
werden ; der Drusch erfolge mit der Dreschmaschine ; die Körner dürften keines-
falls hoch aufgeschüttet werden, weil sie zum Schimmeln neigten.185
Rund um Raps und Rübsen im Besonderen und die Ölfrüchte im Allgemeinen
entspann sich ein hybrides Akteur-Netzwerk, das naturale und soziale Elemente
miteinander verknüpfte (Abbildung 7.29). Die Pflanze im Zentrum dieses Netz-
werks spielte – wie ein Akteur186 – keine bloß passive, sondern eine durchaus ak-
tive Rolle : Sie stellte, gemäß ihrer Eigenarten, Anforderungen an die Wahl des
Standortes, an die Verbesserung der eigenen Wachstumsbedingungen – Saatgut-
wahl, Nährstoffzufuhr, Bieneneinsatz und so fort – sowie die Verschlechterung je-
ner der Konkurrenten – Unkraut- und Schädlingsbekämpfung –, an die Sorgfalt
bei Ernte und Lagerung. Die Ölfrucht forderte das Denken und Handeln der sie
kultivierenden Akteure heraus. Um diesen Anforderungen zu genügen, bedurften
die Ölfruchtanbauer/-innen eines Mehraufwandes an Arbeitskraft, vor allem aber
an organisch- und mechanisch-technischen Mitteln ; zum effektiven Einsatz von
Arbeit und Kapital stieg zudem ihr Bedarf an Expertenwissen über die Kultivie-
rung einer Pflanze, mit der sie wenig bis kein Erfahrungswissen verbanden. Über
dieses sozio-technische Paket traten die Betriebsbesitzer/-innen in Abhängigkeit
von vorgelagerten Produktions- und Handelsunternehmen, etwa für Mineraldün-
ger, Landmaschinen oder Saatgut, sowie Forschungs- und Beratungseinrichtungen
wie dem Pflanzenschutzamt der Landesbauernschaft, das seine Anleitungen mit
Appellen wie „Wir rüsten zur Rapsglanzkäferbekämpfung“187 über das Wochenblatt
verbreitete. Zudem banden sie sich über Lieferungsverträge an den nachgelager-
ten Verarbeitungsbereich, der sie wiederum mit seinen Haupt- und Nebenpro-
dukten wie dem Speiseöl für den menschlichen und Ölkuchen für den tierischen
Bedarf versorgte. Die Ölfruchtanbauer/-innen wurden zu Rohstoffproduzenten für
nachgelagerte Märkte ; zugleich reproduzierten sie ihre Produktionsfaktoren
– Ma-
schinen, Saatgut, Fachwissen und so fort – zunehmend über vorgelagerte Märkte.
Schließlich bedurften all diese Ressourcenflüsse regulierender Eingriffe vonseiten
des Agrarapparats unter Federführung des Reichsnährstandes mittels moralischer
Zumutungen – des Ölfruchtanbaus als „nationale[r] Pflicht“188 –, vor allem aber
ökonomischer Anreize – des Ölfruchtanbaus als Garant für den „nötigen wirt-
schaftlichen Erfolg“.189 Kurz, rund um den Ölfruchtanbau formierte sich in den
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937