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673Vom
Wert der Landarbeit
naturräumlich benachteiligten Alpengebiet nach Osteuropa bedeutet. Angesichts
der zu erwartenden Widerstände in der Bevölkerung und unter dem Einfluss von
Landesbauernführer und Unterstaatssekretär Anton Reinthaller als Schutzpatron
der „Bergbauern“ wurden diese Pläne hierzulande ambivalent beurteilt. So zeigte
Löhr 1942 in einer Artikelserie zum bäuerlichen Arbeitsbegriff210 zwar durchaus
Verständnis für die Arbeitsproduktivität als ökonomischen Leistungsmaßstab im
Flach- und Hügelland, nahm aber die bergbäuerlichen Familienbetriebe aufgrund
ihrer Erzeugungs- und „rassischen“ Leistung ausdrücklich davon aus :
„Im ostmärkischen Bergland, das uns hier nahe liegt, würde die ausschließliche An-
wendung des Prinzips der Arbeitsergiebigkeit voraussichtlich verheerende Folgen ha-
ben. Die Steigerung der Roherträge je Arbeitskraft würde neben einem Rückgang der
Hektarleistungen vor allem mit einer verhängnisvollen Abnahme der Landvolkdichte
in den Berggebieten erkauft werden müssen.“211
In dieselbe, produktivistische und „völkische“ Argumente verschmelzende Kerbe
schlug Löhrs Mitarbeiterin an der Wiener Hochschule für Bodenkultur, Anneliese
Salomon, in ihrer Dissertation von 1944 zur Produktivität im pannonischen Flach-
und Hügelland : Es bestehe zwar ein deutliches Produktivitätsgefälle zwischen
Guts- und bäuerlichen Betrieben und selbst „die Hoffnung, der geringen wirt-
schaftlichen Leistungsfähigkeit des pannonischen Bauern eine biologische entge-
genstellen zu können, wird völlig enttäuscht“. Dennoch müsse der NS-Staat
– „völ-
kisch gesehen“
– auch das „Bauerntum“ wegen seiner grenzpolitischen Aufgabe im
Osten des Reiches stärken.212
Konfrontieren wir die akademische Debatte um die „Unterbewertung der
Landarbeit“ mit dem Wert der effektiven Betriebserträge und Familieneinkom-
men. So einfach diese Aufgabe gestellt ist, so schwierig ist sie zu lösen. Vor allen
grundsätzlichen Erwägungen hängt sie ganz pragmatisch von der Verfügbarkeit
entsprechender Quellen ab. Buchführungsaufzeichnungen könnten am präzises-
ten Auskunft über die Ertrags- und Einkommenshöhe geben ; doch derartige
Quellen sind, zumindest auf betrieblicher Ebene, äußerst rar. Immerhin am Fall
einer großbäuerlichen Ackerwirtschaft in Gän sern dorf können wir die Güter-
und Geldflüsse für das Wirtschaftsjahr 1942/43 im Detail bemessen.213 Auf dem
Hof herrschte eine Kombination aus Marktproduktion und Selbstversorgung, die
offensichtlich die natürliche und Verkehrslage des Standortes im Marchfeld, der
fruchtbaren „Kornkammer“ in Wien-Nähe, ausnützte (Tabelle 7.22) : Die Zu-
ckerrübe, die wichtigste Marktfrucht, wurde auf der Grundlage eines vertragli-
chen Lieferkontingents zur Gänze vom Feld weg an die Zuckerfabrik geliefert ;
auch der Großteil der Weizen-, Roggen-, Gerste- und Rapsernte gelangte zum
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937