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696 Ordnung und Chaos des Marktes
stand über Instrumente, um die Distribution der Agrarprodukte vom Erzeuger
bis zum Verbraucher zu organisieren. Die Doppelfunktion des Reichsnährstandes
äußerte sich darin, dass ihm neben der Kernaufgabe der Marktordnung auch in
der mit Kriegsbeginn eingeführten Bewirtschaftung landwirtschaftlicher Erzeug-
nisse eine Schlüsselrolle zukam. Während der Reichsnährstand Verstöße gegen die
Marktordnung mit Ordnungsstrafen ahndete, wurden Verstöße gegen die Bewirt-
schaftung durch die allgemeine Straf- oder, in schwereren Fällen, Sondergerichts-
barkeit abgeurteilt.
Die Sondergerichtsbarkeit aufgrund der KWVO von 1939 zielte auf die Ver-
folgung des „Kriegsschiebers“, eines antisemitischen und antikapitalistischen Ste-
reotyps mit Bezug zur „Chaoszeit“ des Ersten Weltkrieges. Dieses idealtypische
Konstrukt steht in Kontrast zu den Realtypen ländlicher Schattenwirtschaft : dem
bäuerlichen Schwarzschlächter, dem bäuerlichen Schleichhändler, dem bediensteten Ge-
treideverfütterer und dem bäuerlich-amtlichen Falschmelder. Die ländliche Schatten-
wirtschaft war nicht auf den „Schwarzmarkt“ beschränkt, sondern knüpfte sich
auch an die alltägliche Reziprozität : etwa das Vertrauen gegenüber Familien- und
Betriebsangehörigen, multifunktionale Beziehungsgeflechte der Hofbesitzer/-in-
nen, Zwischenhändler/-innen und Abnehmer/-innen oder die vor Ort gültige Mo-
ralökonomie. Letztlich beeinflussten der informell-illegale und der formell-legale
Agrargütermarkt einander wechselseitig : Die ländliche Schattenwirtschaft diente
auch dazu, das von der Marktordnung unter den Vorzeichen der Bewirtschaftung
erzeugte Chaos – etwa die Widersprüche der Fleischbewirtschaftung für „Selbst-
versorger“ – bis zu einem gewissen Grad wieder in eine Ordnung zu bringen.
Suchten die marktbezogenen Regulative den Fluss der Agrarprodukte zu ord-
nen, sollte die „Erzeugungsschlacht“ die Quelle nicht versiegen lassen. Sie um-
fasste drei Steuerungsinstrumente : propagandistische Appelle, die mit Kriegsende
von der Steigerung auf die Stabilisierung der Erzeugung zurückgenommen wur-
den ; finanzielle Abgeltungen, die stabile Preise und flexible Prämien beinhalteten ;
schließlich die behördliche Aufsicht, die bis zur Zwangsversteigerung ordnungs-
widrig geführter Betriebe ausgeweitet wurde. Die Gesamtbilanz der „Erzeugungs-
schlacht“ fällt zwiespältig aus : Rückschlägen, etwa dem Sinken der Bodennut-
zungsintensität, standen Erfolge, etwa das Halten der Vieh intensität, gegenüber.
Das während des Krieges um etwa ein Fünftel sinkende Gesamtvolumen der Ag-
rarproduktion ging einher mit einer fast ebenso stark sinkenden Bodenproduktivi-
tät und einer – weniger aufgrund betrieblicher Mechanisierung, sondern vielmehr
familialer Selbst- und Fremdausbeutung
– stabilen Arbeitsproduktivität. Gemessen
an der „Wiederaufbau“-Euphorie vor dem Krieg endete die „Erzeugungsschlacht“
mit einer glatten Niederlage ; doch nach Maßgabe der nüchterneren Lagebeurtei-
lung nach Kriegsbeginn gelangen auf dem Feld und im Stall beachtliche Teilsiege.
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937