Page - 702 - in Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Image of the Page - 702 -
Text of the Page - 702 -
702 Eine grünbraune Revolution ?
Tabelle 8.1 : Grundpositionen der Debatte um Nationalsozialismus und Moderne
Triebkraft
intentional funktional
Reichweite total Hitler als „Sozialrevolutionär“
(z.B. Zitelmann) „soziale Revolution“ wider
Willen (z.B. Schoenbaum)
partiell „ambivalente Modernisierung“
(z.B. Bavaj) „vorgetäuschte Modernisierung“
(z.B. Mommsen)
Quelle : eigener Entwurf.
Standen bereits der Einordnung der nationalsozialistischen Gesellschaft als ‚mo-
dern‘ – jenseits der empirischen Evidenz – theoretische Denkbarrieren entgegen,
galt dies für die Agrargesellschaft des „Dritten Reiches“ umso mehr. In der mo-
dernisierungstheoretischen Denkmatrix stehen die Agrargesellschaft im Allgemei-
nen und das Bauerntum im Besonderen für das glatte Gegenteil von ‚modern‘,
nämlich für ‚traditional‘. Die Modernität einer (Industrie-)Gesellschaft äußere sich
in einem strukturell angepassten Agrarsektor mit schrumpfenden Arbeitskräfte-
und wachsenden Produktionszahlen20 – kurz, im „Untergang des Bauerntums“.21
Merkmale wie das Scheitern der staatlichen Offensive zur landwirtschaftlichen
Produktivitäts- und Produktionssteigerung („Erzeugungsschlacht“),22 die Ein-
führung eines ideologisch motivierten, ökonomisch ineffizienten Bodenrechts
(REG)23 oder die Stilisierung des „Bauerntums“ als Fundament eines rassistischen
Gesellschaftsentwurfes („Volksgemeinschaft“)24 scheinen das anti-moderne Wesen
der Agrargesellschaft zu belegen. Moderne Merkmale – etwa die Abwanderung
von Landarbeitskräften in andere Wirtschaftszweige („Landflucht“), die Anläufe
zur technischen „Aufrüstung“ der Bauernbetriebe oder die Propagierung einer Pro-
duktionsmoral25 – erscheinen als ungewollt, vorgetäuscht oder wirkungslos. Folg-
lich wird eine Agrarmodernisierung im „Dritten Reich“
– etwa in der behaupteten
„Entzauberung des nationalsozialistischen Modernisierungsmythos“26 – gänzlich
in Abrede gestellt oder mittels anti-moderner Attribute
– „destruktiv“, „reaktionär“
oder „regressiv“27 – abgeschwächt. Bisweilen wird sogar eine Art ‚Entmodernisie-
rung‘ behauptet. Da sich die Modernisierungsimpulse allein an militärisch-indus-
triellen Maßstäben orientierten, wurden die in der Landwirtschaft Tätigen ihrer
Basisressourcen beraubt : „In terms of their living and working conditions, Hitler’s
war took them backwards rather than forward.“28
In einer aktuellen Forschungsbilanz stellt Gesine Gerhard für die nationalsozi-
alistische Agrargesellschaft ein „Modernisierungsdilemma“ fest :
back to the
book Schlachtfelder - Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945"
Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937