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729Österreich
zwischen Krise und Boom
kriegszeit. Im agrarischen Organisationsgefüge lösten auf Staatsebene das ÖVP-
geführte Landwirtschafts- und das SPÖ-geführte Ernährungsministerium die
Reichsbehörden und auf Länderebene die vom ÖVP-Bauernbund dominierten
Landwirtschaftskammern den Reichsnährstand ab. Dabei wurde ein erheblicher
Teil des für den „Wiederaufbau“ der österreichischen Land- und Forstwirtschaft
kaum entbehrlichen Fachpersonals übernommen ; so etwa wechselte der spätere
Landwirtschaftsminister Eduard Hartmann als Abteilungsleiter von der Landes-
bauernschaft Niederdonau zur Landwirtschaftskammer für Niederösterreich und
Wien.104
Die Ausgangsbedingungen für den „Wiederaufbau“ waren alles andere als güns-
tig : Die Agrarproduktion war mangels Arbeitskräften und Betriebsmitteln ein-
gebrochen ; die Distributionskanäle waren durch zerstörte Verkehrswege, alliierte
Zonengrenzen und überforderte Behörden behindert ; das Konsumniveau war trotz
Auslandshilfen dramatisch – in Großstädten und Industrierevieren bis unter den
Mindestbedarf – gesunken.105 Die unter alliierter Aufsicht stehende Koalitionsre-
gierung suchte angesichts von Produktionseinbruch, Fehldistribution und Man-
gelkonsum die amtlichen Agrarpreise zu stabilisieren. Zu diesem Zweck führten
die Wirtschaftsverbände die kriegswirtschaftliche Zwangsbewirtschaftung – samt
der daneben grassierenden „Schattenwirtschaft“ mit ihrem um ein Vielfaches
höheren Preisniveau – zunächst fort. Der Staatsapparat lockerte 1947 die kriegs-
wirtschaftlichen Regulative : einerseits durch den Übergang von der Gesamt- zur
Teilbewirtschaftung mit vorgeschriebenen Lieferkontingenten, andererseits durch
zwischen Produzenten- und Konsumentenverbänden ausgehandelte Lohn- und
Preisabkommen in Reaktion auf die Nachkriegsinflation. Investitionsprogramme
zur Produktions- und Produktivitätsförderung, vor allem das 1948 gestartete Eu-
ropean Recovery Program (ERP oder „Marshallplan“), hoben den österreichischen
Agrarsektor schrittweise wieder auf das Leistungsniveau der Vorkriegszeit – und
darüber hinaus. Folglich wurde die zu Kriegsbeginn eingeführte und nach Kriegs-
ende verlängerte Lebensmittelbewirtschaftung bis 1950 schrittweise abgebaut.106
Auf die Bewirtschaftung im und nach dem Zweiten Weltkrieg folgte nicht,
wie nach dem Ersten Weltkrieg, die Liberalisierung der Agrarmärkte, sondern die
großkoalitionäre Festschreibung der Marktordnungen – ein Erbe der Krise des
wirtschaftlichen und politischen Liberalismus Ende der 1920er, Anfang der 1930er
Jahre. Das Bündel aus Getreidewirtschafts-, Milchwirtschafts- und Viehverkehrs-
gesetz von 1950, zusammengefasst im Marktordnungsgesetz von 1958, war dem
sozialpartnerschaftlichen Doppelziel der Versorgungssicherheit (im Interesse der
Konsumenten) und Preisstabilisierung (im Interesse der Produzenten) verpflich-
tet. Neben das Marktordnungsgesetz trat das nach mehrjährigen Verhandlungen
zwischen ÖVP und SPÖ 1960 gemeinsam beschlossene Landwirtschaftsgesetz,
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937