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749Versuchsstation
des völkischen Produktivismus
sektors, Art der Verwicklung in das Kriegsgeschehen, Versorgungslage der urban-
industriellen Bevölkerungsteile und so fort.154 Auch innerhalb der Reichsgrenzen
bestanden regionale Unterschiede ; so etwa scheint die ‚nachholende Modernisie-
rung‘ in der Ostmark insgesamt stärker akzentuiert gewesen zu sein als die unter
abgeschwächtem Modernisierungsdruck stehende Agrarentwicklung im „Alt-
reich“.155 All die nationalen und regionalen ‚feinen‘ Unterschiede stehen jedoch im
Schatten des ‚groben‘ Unterschieds, der im Systemvergleich das nationalsozialisti-
sche Alleinstellungsmerkmal darstellt :156 Während die Agrar- und Ernährungs-
politik in allen Krieg führenden Staaten Europas – den Achsenmächten ebenso
wie der Anti-Hitler-Koalition – vor allem eine kriegsstrategische Rolle spielte,157
diente allein Hitler-Deutschland die Nahrung als Waffe im Vernichtungskrieg ge-
gen innere und äußere „Rassenfeinde“
– von sowjetischen Kriegsgefangenen bis zur
jüdischen und slawischen Zivilbevölkerung Osteuropas.158
Das vom NS-Agrarapparat betriebene Makroprojekt einer durchtechnisierten,
marktverflochtenen und staatsgeleiteten Landwirtschaft bot den Mikroprojekten
der bäuerlichen Akteure in der Ostmark positive und negative Bezugspunkte.159
Betriebe und Haushalte in den Nischen der Agrarentwicklung knüpften – etwa
durch marktorientierte Ölfrucht- oder Milcherzeugung – daran an oder wandten
sich
– etwa durch familienbezogene Subsistenzproduktion
– davon ab. Der Haupt-
strom pendelte, je nach Gegebenheiten, zwischen Anknüpfung und Abwendung.
Die Akteure in den Pioniernischen, vor allem beim überambitionierten, wenig
effektiven „Gemeinschaftsaufbau im Bergland“, verweigerten sich zwar manchen
Eingriffen in ihren familienbetrieblichen Autonomiebereich. Doch sie setzten
mehr oder weniger autonome Entwicklungsschritte, die sich in der Agrarrevolu-
tion der Nachkriegszeit – wie die Einführung des Vertragsanbaus von Sonderkul-
turen im Flach- und Hügelland160 oder die Umstellung von Ochsenaufzucht auf
Milchwirtschaft im Bergland161 – zu regionalen Entwicklungspfaden verfestigten.
Zwar steigerte die Spezialisierungstendenz die betriebliche Verletzlichkeit gegen-
über staatlich gelenkten Marktmechanismen ; doch die selbstkontrollierte, noch
stark diversifizierte Ressourcenbasis stützte die Resilienz der Pionierbetriebe. Auf
diese Weise stellte das Makroprojekt des völkischen Produktivismus in Verbindung
mit den Mikroprojekten pionierhafter Wirtschaftsstile Weichen, die über 1945 hi-
naus die Entwicklungspfade regionaler Agrarsysteme – und auf längere Sicht den
Hauptstrom der Betriebe insgesamt – in Richtung des produktivistischen Über-
gangs lenkten.
Die Wirkungsmacht des völkischen Produktivismus erschöpfte sich jedoch
nicht im qualitativ ‚großen‘, aber quantitativ ‚kleinen‘ Übergang in den Pionier-
nischen. Sie umfasste auch einen qualitativ ‚kleineren‘, aber quantitativ ‚größeren‘
Übergang, der weit in den Hauptstrom der Agrarentwicklung hineinwirkte : die
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937