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752 Eine grünbraune Revolution ?
diesem Weg wurde der völkische Produktivismus zum künftigen Fluchtpunkt der
Erwartungshorizonte von Planungsexperten, Funktionsträgern und Pionierbetrie-
ben. Zugleich grenzte sich die davon angeleitete ‚nachholende Modernisierung‘
der ostmärkischen Landwirtschaft vom Erfahrungsraum der vergangenen, bis in
die Gegenwart ausstrahlende Krise der „Systemzeit“ – der Ursache des Nachhol-
bedarfs
– ab. In der Schwebelage von ‚nicht mehr‘ und ‚noch nicht‘ erfuhren agrari-
sche Schlüsselbegriffe eine Umwertung
– so etwa der Leistungsmaßstab, der in den
Planungen zum „germanischen Großraum“ von der Boden- zur Arbeitsproduk-
tivität umschwenkte. Gleichwohl hielten ostmärkische Planungseliten wegen der
„rassisch“ bedenklichen Entsiedlung der Berg- und Grenzgebiete weiterhin an der
Bodenproduktivität fest. Jenseits des Expertendisputs etablierte sich ein von Teilen
der bäuerlichen Basis, vor allem der jüngeren, männlichen Generation, geteiltes
Grundverständnis ‚moderner‘ Agrarentwicklung – noch ein Jahrzehnt bevor diese
in eine fossilenergetisch befeuerte Wachstumsphase eintrat. Der Schwellenzeit-
Charakter der NS-Ära zeigt sich daran, dass der institutionelle Übergang dem
technischen vorauszueilen begann, bevor jener diesen wieder einholte. Die Tech-
nisierungswelle zu Beginn der NS-Ära verdichtete zwar die Erfahrungen der ost-
märkischen Landwirtschaft mit der fossilen Energiebasis der Industriegesellschaft ;
der volle Zugriff darauf blieb ihr jedoch wegen kriegswirtschaftlicher Prioritäten
bis Kriegsende verwehrt – was die Erwartung eines produktivistischen Übergangs
nach dem Krieg umso mehr steigerte.
Die Ergebnisse dieser Studie vermögen auch einen Beitrag zur Debatte um die
„braune Revolution“, das Verhältnis von Nationalsozialismus und Moderne, zu
leisten : Vollzog die nationalsozialistische Agrargesellschaft auf dem Gebiet Ös-
terreichs eine ‚grünbraune Revolution‘ – und entfaltete sich diese eher intentio-
nal oder funktional, total oder partiell ? Erstens beabsichtigten die meisten Ent-
scheidungsträger des NS-Systems, die – gegenüber dem „Altreich“ als rückständig
geltende – ostmärkische Landwirtschaft im völkisch-produktivistischen Sinn zu
modernisieren. Dieses Megaprojekt war jedoch weder fest umrissen noch unum-
stritten ; es bildete ein umkämpftes Amalgam ‚moderner‘ und ‚antimoderner‘ Ele-
mente. Zudem musste es – jenseits aller Intentionalität – ständig den unbeab-
sichtigten Effekten der Kriegsführung als „Agent des Wandels“,172 vor allem dem
Ressourcenvorrang des militärisch-industriellen Komplexes, angepasst werden.
Das weitgehend geteilte Leitbild bildete der „rassisch“ und technisch produktive
Familienbetrieb mittelbäuerlicher Größe als volkspolitisches und ernährungswirt-
schaftliches Fundament der Industriegesellschaft im erweiterten „germanischen
Großraum“ – ein hochmodernistisches, revolutionäres Ziel, das mit sozialtech-
nologischen, evolutionären Mitteln erreicht werden sollte. Ziehen wir davon den
Rassismus als nationalsozialistisches Alleinstellungsmerkmal ab, zeigt sich darin
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Schlachtfelder
Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
Entnommen aus der FWF-E-Book-Library
- Title
- Schlachtfelder
- Subtitle
- Alltägliches Wirtschaften in der nationalsozialistischen Agrargesellschaft 1938–1945
- Author
- Ernst Langthaler
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY-NC 3.0
- ISBN
- 978-3-205-20065-9
- Size
- 15.5 x 23.5 cm
- Pages
- 948
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 9
- 1. Akteure in Agrarsystemen 11
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft als Forschungsgegenstand 11
- 2. Anatomie eines „lebenden Organismus“ 36
- Manövrieren im Feld der Betriebs- und Haushaltsführung 36
- 2.1 Die Konstruktion des „Hoforganismus“ 36
- 2.2 Höfe im Fokus der Betriebszählung 44
- 2.3 Höfe im Fokus der Buchführung 55
- 2.4 Höfe im Fokus der Hofkarte 68
- 2.5 Blicke hinter das Hoftor 79
- 2.6 Im Raum des (unter-)bäuerlichen Wirtschaftens 102
- 2.7 Im Raum der Gutswirtschaft 116
- 2.8 Durchleuchtete Höfe 128
- 2.9 Zusammenfassung 149
- 3. „Entjudete“ Güter, „deutsche“ Bauernhöfe 151
- Manövrieren im Feld des Grundbesitzes 151
- 3.1 „Blut und Boden“ – eine wirkmächtige Metapher 151
- 3.2 Regulative der Ent- und Verwurzelung 156
- 3.3 Das Doppelgesicht der Bodenordnung 172
- 3.4 Verbäuerlichung durch „Entjudung“ 187
- 3.5 Schollenbindung oder Parzellenhandel ? 199
- 3.6 Wer ist (k)ein „Bauer“ ? 216
- 3.7 „Grundstücksverkehr“ vor Ort 230
- 3.8 Zusammenfassung 253
- 4. „Menschenökonomie“ unter Zwang 257
- Manövrieren im Feld der Landarbeit 257
- 5. Die abgebrochene „Dorfaufrüstung“ 375
- Manövrieren im Feld des Betriebskapitals 375
- 6. Das „Landvolk“ und seine Meister 497
- Manövrieren im Feld des Agrarwissens 497
- 7. Ordnung und Chaos des Marktes 570
- Manövrieren im Feld der Agrargüter 570
- 8. Eine grünbraune Revolution ? 699
- Nationalsozialistische Agrargesellschaft im Systemvergleich 699
- Anmerkungen 755
- Tabellenanhang 824
- Farbabbildungsanhang 849
- Quellen- und Literaturverzeichnis 865
- Abkürzungsverzeichnis 918
- Tabellenverzeichnis 920
- Abbildungsverzeichnis 927
- Personenregister 933
- Ortsregister 934
- Sachregister 937