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schen Faktor. Durch die Zivilrechtskodifikationen der Jahre um 1800 hörte
der Stand dann aber auf, eine rechtliche Kategorie zu sein. Andererseits er-
lebte er gerade in dieser Zeit eine regelrechte Renaissance: Es war freilich
nicht mehr das „alt“-ständische, sondern ein sich bewusst davon absetzendes
„neu“-ständisches Denken, das bisher nicht bzw. wenig repräsentierte Grup-
pen die politische Bühne betreten ließ. Die verfassungsrechtlichen Mög-
lichkeiten boten dafür keinen geeigneten Rahmen. Die in der Zeit des Kon-
stitutionalismus geführten Debatten um die Erweiterung des Wahlrechts
brachten zutage, dass ständisches Denken nicht nur dem Gleichheitspostu-
lat, sondern auch dem Konzept repräsentativer Demokratie widersprach.
Das 20. Jahrhundert begann mit einer „Urkatastrophe“ (George F. Ken-
nan). Der Erste Weltkrieg stand am Ende einer Zeit, die die Forderungen der
Französischen Revolution umzusetzen versucht bzw. ihre Folgen zu tragen
gehabt hatte: Für die Idee der Freiheit war ein hoher Preis zu zahlen gewe-
sen, vor allem der Verlust von Bindungen, der durch übersteigerte nationale
Gefühle kompensiert wurde. Von Gleichheit war man weiter entfernt denn
je, und auch von Brüderlichkeit konnte keine Rede sein, gerade nicht in den
jungen Republiken, in denen nach 1918 aus der Sicht vieler Zeitgenossen die
Demokratie die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllte.
Daher verwundert es nicht, dass in manchen Kreisen die Bereitschaft ent-
stand, sich wieder älterer Strukturen zu entsinnen – und damit auch der
Stände. Ein Idealbild derselben vor Augen, akzentuierte man daran aber
nicht mehr die rechtlichen Aspekte, sondern sah in ihnen Gruppen, die
nicht, wie die Klassen, egoistisch, sondern solidarisch wirken, nicht auf ver-
tragliche Pflichten, sondern auf Ehre und Dienst drängen, natürliche Ge-
meinschaften nicht zerreißen, sondern stärken, die stilbildend wirken und
ein spezifisches Bewusstsein schaffen. In diesem Zusammenhang gewinnt
Max Webers Klassifizierung ständischer Herrschaft als „konventional“ an
Aktualität. Nicht zuletzt ist der Begriff „Stand“ die deutsche Entsprechung
zum lateinischen ordo, der Bezeichnung für jene metaphysische, auch mit
christlichem Geist gut vereinbare Ordnung, die sich menschlichem Zugriff
entzieht, ja vielleicht überhaupt mit rationaler Herrschaft schwer in Ein-
klang zu bringen ist. Mit dem ordo-Denken ist aber gleichsam per se ein
hohes Wertbewusstsein verbunden, das – ein im realen Leben freilich nie er-
reichbares Ideal – rationale Normen nicht nötig hat. Seine Verfechter fühlen
sich strengen ethischen Maßstäben verpflichtet.
Gleichwohl ist es heute geradezu verpönt, Standesbewusstsein zu zeigen
oder gar zu kultivieren, weil dies als Zementierung sozialer Ungleichheit
verstanden und mit dem Wunsch nach Privilegien in Verbindung gebracht
wird. Wer solche Standpunkte vertritt, übersieht aber eine Grundbefindlich-
keit des Menschen, nämlich das durch Institutionen rationaler Herrschaft
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580