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Weniger polarisierend sind die einschlägigen Kapitel in zeitgeschicht-
lichen Handbüchern und Überblicksdarstellungen. In der 1983 von Erika
Weinzierl und Kurt Skalnik herausgegebenen Geschichte der Ersten Repu-
blik verwendet Gerhard Jagschitz „Ständestaat“ ohne Anführungszeichen;
er referiert zwar diverse Faschismusthesen, hält es aber für „unangebracht,
von einer Faschismustheorie ausgehend, sich da und dort ein Stück heraus-
zuklauben und damit zu beweisen, wie faschistisch der Austrofaschismus
war“.53
Keine zwei Lustren nach Jagschitz, 1992, nahm sich Dieter A. Binder
der Thematik an: Bei der Neubearbeitung des einschlägigen Abschnitts von
Walter Goldinger in der 1962 von Heinrich Benedikt herausgegebenen Ge-
schichte der Republik Österreich 1918–1938 hatte er nicht die Absicht, die
„große Fülle sozialistischer Selbstdarstellungen“54 zu ergänzen, sondern ein
ausgewogenes Bild der Fakten zu zeichnen. Wie er dies machte, zeigen schon
die Überschriften der diese Zeit betreffenden Kapitel: „Die Krise der parla-
mentarischen Demokratie“ und „Österreich als Objekt totalitärer Außenpoli-
tik“. Ohne die Züge zu verschweigen, die unter Umständen als „faschistisch“
(oder: „diktatorisch“) bezeichnet werden könnten55, ist als seine wichtigste
Aussage die folgende zu zitieren – die nicht nur für Bundeskanzler Dollfuß
im März 1933, sondern für jeden politisch Handelnden gilt: „Was immer der
Kanzler tat, es sprach meist ebensoviel dafür wie dagegen. Es war schwer,
eine klare Linie einzuhalten, Dollfuß verließ sich da mehr auf seinen Ins-
tinkt und nahm Missgriffe in Kauf.“56 Die Zeit Schuschniggs betreffend, be-
tont er die spätestens 1938 gegebene außenpolitische Isolation.57
1994 erschien Ernst Hanischs grundlegendes Werk Der lange Schatten
des Staates. Wie Binder hatte sich auch dieser Autor schon zuvor bereits
mehrmals in tiefschürfender Weise, auch unter Heranziehung neuer Quel-
len mit besagter Zeit bzw. mit diversen mit der Thematik in Zusammen-
hang stehenden Aspekten befasst. Entsprechend vorsichtig ist seine Diktion:
Den Begriff „Ständestaat“ setzt er zwar unter Anführungszeichen, legt aber
Wert darauf, diese Zeit im Rahmen der Ersten Republik abzuhandeln, und
was den Faschismusvorwurf anbelangt, wägt er mit größter Vorsicht ab und
mahnt zu begrifflicher Sorgfalt.58 Auch Hanischs wissenschaftliche Arbeit ist
53 JaGschitZ, Ständestaat, 498–500.
54 GoldinGer/binder, Geschichte 10.
55 GoldinGer/binder, Geschichte 291.
56 GoldinGer/binder, Geschichte 202.
57 GoldinGer/binder, Geschichte, 273.
58 hanisch, Der lange Schatten, 311–315; vgl. auch hanisch, Die Politik, 128– 130; hanisch,
Der Politische Katholizismus, 68 f.; hanisch, „Christlicher Ständestaat“, 177–179; vorsich-
tig abwägend auch steiner, Wahre Demokratie?, 40–49.
1.1 DIE GELTENDE MEISTERERZÄHLUNG – UND WAS SIE OFFEN LÄSST 25
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580