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vom Bewusstsein diktiert, dass „bei der theoretischen Einordnung des Regi-
mes […] gewiss politische Einstellungen mit[spielen]“, aber auch dass „die
Kurzzeitperspektive der Zeitgeschichtsforschung, die kaum über 1918 zu-
rückreicht“, hemmend wirke.59 Aus diesem Grund akzentuiert er das weiter
zurückreichende Phänomen „Lagerbildung“, das er aus der Verschiedenheit
zweier „Lebensentwürfe“, des sozialdemokratischen und des christlichsozi-
alen, erklärt.60 Bei allem kritischen Geist, der aus jeder Zeile spricht, stellt
er zu Dollfuß fest, dass er kein Faschist war61, und konzediert, dass die Not-
wendigkeit des Kampfs um die Unabhängigkeit „eine klare Linie [war], die
von der Forschung akzeptiert werden muss […]“.62
Ein Jahr nach Hanischs wissenschaftlicher Synthese erschien – bereits in
fünfter Auflage – eine auch außerwissenschaftliche Leserkreise ansprechende
Überblicksdarstellung. Dass sie hier genannt wird, liegt an der Person der
Verfasserin des einschlägigen Abschnitts, Erika Weinzierl. Die Doyenne der
österreichischen Zeitgeschichtsforschung verwendete das Wort „Ständestaat“
ohne Anführungszeichen und vermied es, mit Dollfuß ins Gericht zu gehen:
Er sei nicht von vornherein auf einen autoritär-faschistischen Zug festgelegt
gewesen63 und er habe die Auseinandersetzung mit den Sozialdemokraten län-
ger aufgeschoben, als Mussolini es wünschte.64 Unter seinem Nachfolger Kurt
Schuschnigg erkennt sie Anzeichen einer gewissen Demokratisierung.65
1997 stellte sich wiederum Dieter A. Binder dem Thema „Ständestaat“:
Das von ihm verfasste einschlägige Kapitel in einem von Rolf Steiniger und
Michael Gehler herausgegebenen zweibändigen Studienbuch66 ist mit Der
„Christliche Ständestaat“ Österreich 1934–1938 überschrieben, also anders
als die fünf Jahre zuvor erschienene Darstellung. Dass die gerade in diesem
Zusammenhang sensiblen Anführungszeichen verwendet werden, allerdings
nur im Titel67, ist als Zeichen kritischer Aufgeschlossenheit zu verstehen, in
der Substanz weicht die Darstellung von der früheren aber nicht ab; unver-
kennbar ist das Bemühen, auch die Problematiken rund um die Lösungen
der Sozialdemokraten68, insbesondere deren natürliche Affinitäten zum Na-
59 hanisch, Der lange Schatten, 310.
60 hanisch, Der lange Schatten, 292 f.
61 hanisch, Der lange Schatten, 298.
62 hanisch, Der lange Schatten, 317; vgl. auch newman, Zerstörung, 301 und 305.
63 weinZierl, Zeitgeschichte, 221.
64 weinZierl, Zeitgeschichte, 224.
65 weinZierl, Zeitgeschichte, 228.
66 steininGer/Gehler, Österreich im 20. Jahrhundert.
67 Im Text kommt „Ständestaat“ durchwegs ohne das Attribut „christlich“ vor.
68 binder, Der „Christliche Ständestaat“, 203 f.; man beachte auch die ausführliche Berück-
sichtigung von Sichtweisen Otto Bauers (ebd. 203 f.) und Karl Renners (ebd. 206).
1. DAS
ERKENNTNISINTERESSE26
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580