Page - 32 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Image of the Page - 32 -
Text of the Page - 32 -
erlich benannten Desideratums zu leisten – und folglich in Gestalt eines ide-
engeschichtlichen Zugriffs das Selbstverständnis der politischen Akteure zu
analysieren, ihre Mentalitäten und mentalen Dispositionen nicht nur aus
den tagespolitischen Maßnahmen, sondern auch aus dem schriftlichen Nach-
lass zu erschließen.127 Diese Absicht trägt dem ebenfalls schon seit langem
konstatierten Faktum Rechnung, dass die Intentionen der Regierenden und
die realen historischen Prozesse nicht notwendigerweise konform sein müs-
sen – und im Österreich der dreißiger Jahre auch nicht waren: Ideeller An-
spruch und politische Praxis klafften teilweise weit auseinander.128
Den entscheidenden Ansatz bietet die beim Studium der vorhandenen
Literatur gewonnene Einsicht, dass – bei aller Vielfalt der Themen – ein
Aspekt bislang kaum Berücksichtigung gefunden hat, nämlich der Begriff
„Stand“: Die Empörung der als kritisch sich verstehenden Wissenschaft über
die autoritären Züge des Systems hat nicht nur zur Ablehnung des Begriffes
„Ständestaat“ geführt, sondern auch den Blick dafür versperrt, dass nicht
nur die Berufsstände, sondern der Begriff „Stand“ als solcher einer näheren
Analyse würdig sein könnten, umso mehr, als der Aufbau eines Ständestaa-
tes ja nicht per se mit der Forderung nach Stärkung der staatlichen Autori-
tät identisch war.129 Soweit auf das Thema Bezug genommen wurde, geschah
dies, und zwar unabhängig von der Gesamtbeurteilung des Systems, nur in
Gestalt von Hinweisen auf die versuchte Bildung der Berufsstände und die
dabei auftretenden Probleme – und hierbei konnte nichts anderes konsta-
tiert werden als ein Scheitern.130 Worum es tatsächlich ging, so die These der
vorliegenden Studie, war indes ein Denken und Fühlen in Kategorien des
Ständischen in einem sehr umfassenden Sinn, in dem eine überwunden ge-
wähnte, vor dem Zeitalter der Massendemokratie anzusiedelnde Mentalität
fortlebte: Die Berufsstände waren hierfür nur die äußere Hülle. Die Rede ist
von einer Form von Konservatismus131, dessen Bedeutung viel weiter reicht
kurz zuvor hatte Helmut Rumpler die Selbstdarstellung der gesellschaftlichen und politi-
schen Positionen des Ständestaates und seiner Träger als Forschungsdesiderat bezeichnet;
Kindermann/rumPler/liebmann/hanisch, Politik, 87 (H. rumPler).
127 reiter-ZatlouKal/rothländer/schölnberGer, Einleitung, 9; das hier im Rekurs auf E. Tálos
verwendete Attribut „ideologisch“ (für das Selbstverständnis) wird wegen der pejorativen
Konnotation (Intoleranz gegenüber anderen Sichtweisen) vermieden.
128 hanisch, Der lange Schatten, 310; JaGschitZ, Ständestaat, 497; steiner, Wahre Demokra-
tie?, 48.
129 KluGe, Ständestaat, 49; KluGe, Bauern, 427.
130 P. berGer, Kurze Geschichte, 170; binder, Der „Christliche Ständestaat“, 207; tálos/ma-
noscheK, Aspekte, 136; wohnout, Anatomie, 964 und 970; im Einzelnen wird dies in Kap. 7
der vorliegenden Studie nachgewiesen.
131 Im Sinn von mannheim, Konservatismus; vgl. auch heidenreich, Politische Theorien, 9 f.;
Göhler, Konservatismus, 20 f. und 28 f.; seefried, Reich, 27 f.; diese Begriffsbestimmung
1. DAS
ERKENNTNISINTERESSE32
back to the
book „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit"
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580