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Bei der Bekleidung von Führungspositionen traten immer häufiger Bürger-
liche an die Seite der bisher allein zum Zuge gekommenen Adligen, so dass
sie allmählich in diesen Stand hineinwuchsen.153
1848 wurden Versuche der Vermittlung zwischen Alt und Neu unternom-
men. In Wien tagte auf Einladung der niederösterreichischen Stände der
vornehmlich von den deutschösterreichischen Ländern beschickte Ständi-
sche Zentralausschuss, um Vorschläge für eine zeitgemäße Form des Stän-
dewesens auszuarbeiten. Ziel war die Schaffung einer Reichsvertretung, die
durch Vertreter der „modernen“ Stände (Landwirtschaft, Industrie, Handel,
Wissenschaften) erweitert sein sollte.154 In Bayern versuchte die Abgeord-
netenkammer in diesem Revolutionsjahr Standesgrenzen begrifflich zu fi-
xieren: An die Stelle des personal verstandenen Standesbegriffs traten wirt-
schaftliche Interessenbereiche155; der Berufsstand nahm schärfere Konturen
an.156
Andererseits legte, ebenfalls 1848, der Benediktinermönch Albert Jäger
aus dem Tiroler Stift Marienberg in einer Studie über die ständische Ver-
fassung seines Heimatlandes ein vehementes Plädoyer für das altständische
System ab: „Eine Verwischung der Stände durch eine Volksvertretung im
modernen Sinne passt für uns nicht. Wir Tiroler sind keine abstrakte Volks-
masse, wir sind wie im Privat-, so im öffentlichen Leben scharf in Stände
geschieden.“157
Diese Abhandlung war einer der ersten Versuche über landständische
Verfassungen; im Zeitalter des Liberalismus nahm das Interesse der Wis-
senschaft an diesem Thema zu.158 Damals gehörten das Bild einer Aus-
gleichs- und Vermittlungsfunktion der Stände zwischen Monarch und Volk
und die konsensorientierte Rechtsauffassung des Alten Reichs noch zum
Gemeingut der Staatstheoretiker.159 Die geburts- und machtständische Sozi-
alstruktur überdauerte also die politisch-rechtliche Entmachtung der Stän-
de.160 Nach 1848 wurde der Ständegedanke vornehmlich von jenen besetzt,
die sich in einem „moderneren“ Zeitalter nicht zurechtfanden.161 Auch Otto
von Bismarck war ein Befürworter ständischer Modelle.162
153 schwinn, Ständische Verhältnisse, 84.
154 Gottsmann, Der Reichstag, 21.
155 GG 6 (1990), 270 (Stand/Klasse, R. walther).
156 bohn, Ständestaatskonzepte, 21 und 30; mayer-tasch, Korporativismus, 8.
157 JäGer, Ständische Verfassung, IV f.
158 ammerer, Die Stände, 21.
159 GG 6 (1990), 243 (Stand/Klasse, R. walther); stollberG-rilinGer, Reich, 14.
160 mayer-tasch, Korporativismus, 9.
161 streitenberGer, Leitbild, 88.
162 bohn, Ständestaatskonzepte, 30.
1.2 STAND: DER BEGRIFFLICHE AUSGANGSPUNKT 35
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580