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Schuschnigg gelang es nicht, die Lage zu stabilisieren, wie häufige Re-
gierungsumbildungen245 und ein schleichender Abbau des Sozialsystems246
zeigen. Von den unter seiner Kanzlerschaft gesetzten Maßnahmen sei insbe-
sondere die Revision des Habsburgergesetzes vom 3. April 1919247 erwähnt,
das am 10. November 1920 in Verfassungsrang erhoben worden war248: Am
10. Juli 1935, in einer außenpolitisch günstiger sich präsentierenden Situ-
ation, wurde es in den einfachen Gesetzesrang zurückgestuft; die Landes-
verweisung für die Mitglieder der ehemaligen kaiserlichen Familie wurde
aufgehoben, Teile des Vermögens wurden rückerstattet.249 Diese in erster Li-
nie zum Zweck der Verhinderung des Anschlusses an Deutschland gesetzte
Maßnahme hatte im Ausland besorgte Reaktionen zur Folge.250
Bis 1935 kooperierten die österreichischen Regierungen mit dem faschis-
tischen Italien, um für den in seiner Eigenständigkeit als bedroht empfunde-
nen Staat einen Rückhalt gegen das Deutsche Reich zu gewinnen (Kap. 3.5).
Der 1935/36 stattfindende Abessinienkrieg entfremdete Italien den West-
mächten und förderte die Annäherung an Deutschland. In diesem Zusam-
menhang zeigte die österreichische Regierung auch zunehmende Skepsis ge-
genüber der Heimwehr. 1936 wurde der Wehrverband aufgelöst und durch
die neu gegründete Frontmiliz ersetzt. Diese Maßnahme diente der politi-
schen Stärkung von Bundeskanzler Schuschnigg, der seinen politischen Wi-
dersacher Starhemberg aus allen seinen Positionen entließ.251
Bereits im Herbst 1930 hatte Schuschnigg in Tirol die Ostmärkischen
Sturmscharen gegründet, eine den Ideen der christlichen Sozialreform ver-
pflichtete, anfänglich nicht militante kulturpolitische Erneuerungs- und
Schutzbewegung, die sich von der Heimwehr grundlegend unterschied.252
Anton Klotz spendete ihm dafür großes Lob.253
245 KluGe, Ständestaat, 88–90.
246 Pasteur, Kruckenkreuz, 162 f.; schmit, Christliche Arbeiterbewegung, 55–63; tálos, Vor-
aussetzungen, 263; unterrainer, Wirtschaftspolitik, 100–103.
247 Vgl. dazu binder, Von 1918, 16–20.
248 tálos, Handbuch, 47 (O. lehner); waltersKirchen, Adel, 181; hoPfGartner, Schuschnigg,
139.
249 binder, Von 1918, 20; lovreK, Die legitimistische Bewegung, 235 f.; mosser, Legitimismus,
129–194, 359–364; steKl, Österreichs Adel, 119; tálos, Herrschaftssystem (2013), 265.
250 GoldinGer/binder, Geschichte, 246; G. stourZh, Außenpolitik, 340.
251 binder, Der „Christliche Ständestaat“, 210 und 214; carsten, Faschismus, 255–257; Gol-
dinGer/binder, Geschichte, 252; JaGschitZ, Ständestaat, 506 f.; marschniG, Militarisierung,
40–45 und 66–69; tálos, Herrschaftssystem (2013), 65 und 225–227; wiltscheGG, Heim-
wehr, 97–112.
252 busshoff, Dollfuß-Regime, 31 f.; GoldinGer, Schuschnigg, 221; stimmer, Eliten, 749–752;
tálos, Handbuch, 272 (C. Earl edmondson); tálos, Herrschaftssystem (2013), 201–204.
253 KlotZ, Sturm, 12. 3. DER POLITISCH-GEISTESGESCHICHTLICHE
RAHMEN82
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580