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Nach Vogelsangs Tod ging die geistige Führung der katholischen Sozi-
allehre in Österreich auf Franz Martin Schindler über. Ab 1887 Inhaber
der Lehrkanzel für Moraltheologie in Wien und Verfasser der ersten sys-
tematischen Darstellung der katholischen Soziallehre in Österreich368, war
er einer der wichtigsten Theoretiker des ständischen Gedankens. Diesen
betrachtete er als Korrektur und Stütze, nicht als Ersatz für den Parlamen-
tarismus.369 Er wollte das feudal orientierte Programm des „Romantikers“
mit neueren gesellschaftlichen Entwicklungen harmonisieren. In Ausein-
andersetzung mit dem Sozialismus sprach er sich gegen die Aufrechterhal-
tung adliger Privilegien aus. Statt radikaler Gesellschaftsreform forderte
er praktische Sozialpolitik; auch einen gemäßigten Kapitalismus hieß er
gut. Wissend um die Schwierigkeiten, unter ungünstigen sozialen und wirt-
schaftlichen Bedingungen die Integrität des Handelns zu bewahren, for-
derte Schindler die Einbindung von Soziologie und Volkswirtschaftslehre in
die Moraltheologie.370 1891 formulierte er auf der Basis der Ergebnisse der
„Entenabende“, denen er als geistiger Erbe Vogelsangs vorsaß371, das erste
Programm der CSP.372
Ab 1892 baute Schindler die Leo-Gesellschaft auf, einen Verband österrei-
chischer Gelehrter zur Pflege und Wahrung christlicher Weltanschauung,
der sich zum intellektuellen Vordenkerkreis des politischen Katholizismus
in Österreich entwickelte; hier fanden auch monarchistische und autori-
täre Konzepte Platz.373 1905 veröffentlichte Schindler seine Gedanken zum
„Volksstand“, den er als genossenschaftliche Zusammenfassung aller Ange-
hörigen des gleichen Berufs beschrieb. Der Staat sollte in die Organisation
stützend, nicht lenkend eingreifen.374
Ein durch grundsätzliche Aussagen hervorgetretenes Mitglied der
Leo-Gesellschaft war Albert M. Weiss OP, der 1894 über Individuum und
368 Biogramm bei streitenberGer, Leitbild, 96; Würdigungen bei hörmann, Moraltheologie,
189–193; Kriechbaumer, Erzählungen, 304–306; leischinG, Die römisch-katholische Kirche,
218; schönner, Moraltheologe, 317–320.
369 iber, Vom Syllabus, 19–22; Knoll, Der soziale Katholizismus, 14; tálos, Voraussetzungen,
255.
370 streitenberGer, Leitbild, 99 und 206; wohnout, Verfassungstheorie, 6 f.
371 lacKner, Die Ideologie, 82 f.; wandrusZKa, Struktur, 317.
372 hörmann, Moraltheologie, 193–198; schönner, Moraltheologe, 321–324; streitenberGer,
Leitbild, 97.
373 boyer, Wiener Konservativismus, 344; diamant, Katholiken, 112; drobesch, Vereine,
1108–1110; hörmann, Moraltheologie, 195; schönner, Moraltheologe, 326; stimmer, Eliten,
685–689.
374 hörmann, Moraltheologie, 194; PytliK, Berufsständische Ordnung, 17; schönner, Moral-
theologe, 325; streitenberGer, Leitbild, 97–101; wohnout, Verfassungstheorie, 5; wohnout,
Regierungsdiktatur, 15.
3.3 DIE „GESELLSCHAFTSREFORM“ AUF CHRISTLICH-SOZIALER GRUNDLAGE 93
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580