Page - 97 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Image of the Page - 97 -
Text of the Page - 97 -
tet401, waren beide Rundschreiben um gesellschaftliche Harmonie bemüht.
RN wandte sich gegen ein zu starkes Unternehmertum, QA eher gegen über-
steigerte Forderungen der Arbeiterschaft. Außerdem behandelte Pius XI. die
Wirtschaft als eigenen, von reiner Sozialethik getrennten Sachbereich und
hob ihre ordnungspolitische Aufgabe hervor; jede Wirtschaftsordnung müsse
eine geistig-ethische Zielsetzung im Sinn der klassischen Tugendlehre ha-
ben.402
Zwecks Abgrenzung vom Sozialismus kam zunächst die Arbeiterfrage,
dann die gesellschaftliche Ordnung insgesamt zur Sprache. Aus der Erfah-
rung der Zeit heraus, in der individualistischer Geist überhand genommen
habe403, räumte Pius XI. dem Staat mehr Initiativrecht ein als Leo XIII. In
wirtschaftlicher Hinsicht waren die zentralen Aspekte die Anerkennung des
Eigentums in seiner individuellen und sozialen Funktion und die Forderung,
den Ertrag von Arbeit und Kapital dem allgemeinen Nutzen dienstbar zu
machen. Weitere auch für Österreich wichtige Eckpunkte waren das Subsi-
diaritätsprinzip, der väterlich-autoritäre Führer, die hohe Stellung von Ehe
und Familie sowie die Erziehung im Einklang von Staat und Kirche.404
Sozialreform im Sinn von QA bedeutete sowohl Strukturreform („Zustän-
dereform“) als auch das Bemühen um eine Besserung der „Sitten“ („Gesin-
nungsreform“). Das Rundschreiben, dessen Erkenntnisquelle das Natur-
recht (Kap. 5.4) darstellt, beruht auf einer anthropologischen Kernaussage
der katholischen Kirche, nämlich dass die Person Ursprung, Träger und Ziel
allen gesellschaftlichen Lebens ist. Eine zentrale Botschaft war die wesens-
mäßige Subsidiarität jeder Gesellschaftstätigkeit. Die Glieder des Sozialkör-
pers, gedacht als Gemeinschaften, darunter auch Berufsstände, sollten die
benötigte Unterstützung bekommen, aber niemals zerschlagen oder aufge-
saugt werden, auf dass dem Individuum die Freiheit erhalten bleibe. Von
Ständen als Ersatz für Parteien war in QA nicht die Rede.405
401 Zum Kontext vgl. beyer, Ständeideologien, 128; bohn, Ständestaatskonzepte, 52; isensee,
Subsidiarität, 139; Klose, Quadragesimo anno, 25.
402 hättich, Wirtschaftsordnung, 13–17; novotny, Der berufsständische Gedanke, 213; roos,
Die Sozialenzykliken, 128; schmit, Christliche Arbeiterbewegung, 25–28.
403 isensee, Subsidiarität, 138.
404 böcK, Öffentlichkeitsarbeit, 18 f.; diamant, Katholiken, 155–160; Gabriel, Die Wurzeln,
17–20; G. KlemPerer, Konzepte, 56 f.; lindGens, Die politischen Implikationen, 90; may-
er-tasch, Korporativismus, 61.
405 burGhardt, Das berufsständische Experiment, 224; hättich, Wirtschaftsordnung, 44–48;
G. KlemPerer, Konzepte, 58–60; lacKner, Die Ideologie, 59 f.; LThK/III 2 (1994), 300 f. (A.
rauscher); mayer-tasch, Korporativismus, 61–63; Mikluščák, Subsidiarität, 25; PytliK, Be-
rufsständische Ordnung, 33 f.; roos, Entstehung, 110.
3.4 DIE ENZyKLIKA QUADRAGESIMO ANNO UND DIE KATHOLISCHEN SOZIALTHEORETIKER 97
back to the
book „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit"
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580