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Dieser Terminus bezeichnete Wirtschaftsverbände zur rechtlichen Interes-
senvertretung von Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Die Berufsverbände
beider Gruppen jeder Branche mussten registriert und vom Staat anerkannt
werden. Ungeachtet des angestrebten Ziels der „harmonischen Selbstver-
waltung aller Produzenten“ waren Arbeitnehmer und Arbeitgeber getrennt
organisiert. Hier lag der wesentliche Unterschied zu den Berufsständen in
Österreich; dazu kam die Unterstellung unter die Disziplinargewalt der je-
weils zuständigen Staatsorgane.527
Das eigentliche Korporativorgan war die confederazione, eine aus der ver-
tikalen Vereinigung mehrerer Syndikate sich ergebende, hierarchisch aufge-
baute Struktur. Die Verklammerung in Gestalt der Korporationen erfolgte
erst 1934; einstweilen begnügte man sich mit der Schaffung eines Consiglio
nazionale delle corporazioni im Jahr 1926.528 Mussolini bezeichnete diesen
als „denkendes Gehirn“ der Wirtschaft; in allen Organen desselben führte er
selbst den Vorsitz.529 Bis 1929 leitete er auch das ebenfalls 1926 eingerich-
tete Ministerium für das Korporationswesen. Als Unterstaatssekretär stand
ihm Giuseppe Bottai zur Seite, der 1929 zum Minister avancierte.530
Am 21. April 1927 beschloss der faschistische Großrat die sogenannte
Carta del Lavoro, die als Arbeitsverfassung des faschistischen Staates ge-
dacht war531 und als „Richtschnur für die gesamte soziale Gesetzgebung“ ge-
feiert wurde. Als ihr geistiger Vater gilt Giuseppe Bottai.532 Sie stand unter
starkem Einfluss des Entwurfs, mit dem d’Annunzio sieben Jahre zuvor an
die Öffentlichkeit getreten war.533 Trotz des grundsätzlichen Bekenntnisses
zum Subsidiaritätsprinzip galten in bestimmten Fällen staatliche Interven-
tionen als gerechtfertigt.534
Die Korporationen im strengen Sinn des Wortes, insgesamt 22, wurden
am 5. Februar 1934 begründet.535 Entgegen den Grundsätzen eines echten
Korporativismus, nämlich dass Berufsstände autonome Teilhaber an der
Staatswillensbildung sein sollten536, handelte es sich um Organe staatlicher
527 G. KlemPerer, Konzepte, 45–49; J. reiter, Entstehung, 130–132; scholZ, Italienischer Fa-
schismus, 80 f.
528 mayer-tasch, Korporativismus, 108; scholZ, Italienischer Faschismus, 85.
529 mayer-tasch, Korporativismus, 124–128.
530 bauerKämPer, Der Faschismus, 61 und 171; GoetZ, Intellektuelle, 195; J. reiter, Entste-
hung, 92; scholZ, Italienischer Faschismus, 86 f.; thöndl, Oswald Spengler, 45 f.
531 J. reiter, Entstehung, 93; eine detaillierte Beschreibung des Inhaltes ebd., 232–234.
532 J. reiter, Entstehung, 353 f.; scholZ, Italienischer Faschismus, 94 und 101.
533 J. reiter, Entstehung, 120 f.
534 mayer-tasch, Korporativismus, 95.
535 G. KlemPerer, Konzepte, 50; Payne, Geschichte, 154 und 267.
536 schambecK, Kammerorganisation, 455.
3.5 DIE NACHBARSCHAFT DES FASCHISTISCHEN ITALIEN 109
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580