Page - 140 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Image of the Page - 140 -
Text of the Page - 140 -
Klotz’ Ausführungen erinnern an die vom Politologen Richard Löwenthal an-
gesprochenen „Elemente plebejischer Revolte gegen die Führerschicht von
Fachbürokraten und Honoratioren“, von denen der Faschismus lebe, auch an
die Skrupellosigkeit der von allen Traditionen losgelösten Führerschicht, die
teilweise aus Dilettanten und Desperados bestand.832
Einen anderen Schwerpunkt setzte Guido Zernatto: Er nannte den Fa-
schismus eine Ersatzreligion, mit der Mussolini dem Einzelnen das Gefühl
vermittelt habe, in einer unsterblichen Gemeinschaft zu leben. Ohne den Fa-
schismus insgesamt gutzuheißen, betonte er allerdings, man dürfe ihn nicht
mit dem Nationalsozialismus gleichsetzen.833
Im CS kam der Unterschied zwischen den beiden Ideologien wiederholt
zur Sprache, ebenfalls zum Vorteil des Faschismus.834 Eine positive Wür-
digung erfuhr dessen Bekenntnis zur historischen Tradition, weniger das
Heraufbeschwören der imperialen Vergangenheit. Im Gegensatz dazu
wende sich das nationalsozialistische Deutschland „von den Höhen seiner
Geschichte“ (die im Mittelalter lägen) ab und greife auf die archaischen
Anfänge zurück: Italien stelle „einen Kulturgedanken in den Brennpunkt
seines neuen Lebens“, Deutschland mit der Rassenlehre einen naturwis-
senschaftlichen Begriff.835 Es fehlte auch nicht an Versuchen, die vielfach
vorgenommene Gleichsetzung von Nationalsozialismus und italienischem
Faschismus sowie die Prägung des Wortes „Austrofaschismus“ zu verste-
hen. Gemeinsamkeiten zwischen Italien und Deutschland seien die späte
Einigung und die schwache parlamentarische Tradition, aber die Überle-
gungen gipfelten im Nachweis der Unterschiede. Nunmehr hätten sich die
Faschismen auseinandergelebt, es bestehe eine „Wesensverschiedenheit“,
eine Polarität geradezu: In Italien bestimme der zentralistische Einpar-
teienstaat das Denken, während der Nationalsozialismus zum „Machtträ-
ger gegen den Staat“ geworden sei, ja im Dritten Reich einen „mythischen
Überstaat“ gebildet habe.836 Es werde übersehen, dass der deutsche Faschis-
mus „viel bedrohlicher und virulenter ist“ als der italienische. Italien und
Deutschland, so die im Spätherbst 1935 gereifte Einsicht, hätten nicht aus
weltanschaulichen Gründen zusammengefunden, sondern aus einer revi-
sionistischen Haltung heraus; nach den Friedensverträgen seien außenpo-
litische Notwendigkeiten stärker gewesen als Ideen. Allem Anschein nach
stand damals in Österreich in konservativen Kreisen die Furcht vor einem
832 löwenthal, Faschismus [1935], 83–86.
833 Zernatto, Vom Wesen, 157 f.
834 Vgl. hierzu auch KuGler, Die frühe Diagnose, 146 f.
835 CS 10. 12. 1933 (F. hauser).
836 CS 16. 6. 1935 (R. brendel). 3. DER POLITISCH-GEISTESGESCHICHTLICHE
RAHMEN140
back to the
book „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit"
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580