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onsleistung beziehe sich außer auf die Sachbereiche auch auf die einzelnen
geographischen Regionen. Die korporative Ordnung sei ein Werkzeug staat-
licher Zwecke; daher müssten Eingriffe des Staates in die Wirtschaft bei Be-
darf hingenommen werden: Sie erfolgten ja nicht eher, als ein Unterneh-
mer dem nationalen Interesse nicht gerecht werde. Das System beruhe auf
hohem Pflichtethos und lehne jeglichen Egoismus ab. Die 1925 gegründete
Opera Nazionale Dopolavoro874 ermögliche den Arbeitern eine sinnvolle Frei-
zeitgestaltung – wie überhaupt die wirtschaftliche Erneuerung von sozialen,
kulturellen und religiösen Faktoren beherrscht werde.875
Kritischere, die Diskrepanz zwischen Anspruch und Wirklichkeit876 be-
nennende Töne klingen in einem 1932 erschienenen Beitrag von Luisa Riva
Sanseverino an. Ausgehend von den Ergebnissen eines im Mai 1932 in Fer-
rara abgehaltenen Kongresses über Syndikalismus und Korporativismus
resümierte sie, noch sei der Erstere mächtiger, die Klassenspaltung sei also
nicht voll überwunden. Auch hätten die Syndikate noch anarchische Züge
und das Verhältnis zum Individuum sei noch nicht genügend geregelt. Sie
forderte die Abkehr vom Freihandel als „politischer Ökonomie“ zugunsten
einer „ökonomischen Politik“, d. h. einer, die auch andere als wirtschaftliche
Überlegungen zum Zuge kommen lasse. Der Korporativismus sei ein univer-
saler Gedanke; es müsse alles daran gesetzt werden, ihn zu verwirklichen.877
Costamagnas und Renzettis Auffassung vom Staat ging Walter Heinrich
– bei aller Sympathie – zu weit. Er vermisste die in seinen Augen zentrale
Unterscheidung zwischen staatlichen und ständischen Verrichtungen und
lehnte die faktische Überordnung des Staates über die Wirtschaft ab, weil
sie den Korporationen den Charakter von Selbstverwaltungsorganen raube.
Der korporative Staat italienischen Musters nehme auf die Wirtschaft zu
weit reichenden Einfluss, beschränke sich nicht auf seine Rolle als Ord-
nungsrahmen und beeinträchtige die Eigenständigkeit anderer als wirt-
schaftlicher Organisationen: Daher komme eine echt ständische Ordnung
nicht auf. Als Vertreter des Universalismus konnte Heinrich einen Staat,
der nicht mehr sei als die Summe der Institutionen („enti“), ein Bündel („fas-
cio“) von solchen, nicht gutheißen. Diesen Auffassungsunterschied betrach-
tete er indes nicht als einen grundsätzlichen, sondern führte ihn auf die
„Eigentümlichkeiten des Italieners“ zurück, der einem übersteigerten Fort-
schrittsglauben verfallen sei und daher Zivilisation und Technik überbewer-
874 Vgl. bauerKämPer, Der Faschismus, 61 f. und 167; Payne, Geschichte, 275; wiPPermann,
Europäischer Faschismus, 36; woller, Geschichte, 118 f.
875 StL 1932, 233–244 (G. renZetti).
876 Vgl. tálos, Zum Herrschaftssystem, 155.
877 StL 1932, 471–478 (L. riva sanseverino).
3. DER POLITISCH-GEISTESGESCHICHTLICHE
RAHMEN148
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580