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nem Ganzen formende Kraft, die an der Basis große Sphären der Freiheit
erhalte.1105
Insgesamt könne die Maiverfassung, so das für Voegelin gleichwohl etwas
ernüchternde Resultat seiner Analyse, aber allenfalls eingeschränkt als eine
ständestaatliche bezeichnet werden. Denn die an der Gesetzgebung betei-
ligten Organe bestünden nur zu einem geringen Teil aus Ständevertretern,
auch eine Willensintegration bei der Behandlung von Regierungsvorlagen
erfolge nur okkasionell.1106
Stärker als diese Bedenken war aber die Überzeugung, die ständische
Ordnung sei wichtiger als der Ständestaat.1107 Für Österreich, so Voegelins
Resümee nach Erörterung zahlreicher Details1108, sei es gut gewesen, die
Volksvertretung durch eine Ständevertretung zu ersetzen: Unter der Verfas-
sung von 1920 sei das Parlament kein Parlament im westeuropäischen Sinn
gewesen; daher sei es 1934 um nichts weniger als um die Umgestaltung zu
einer „funktionsfähigen Vertretung“ gegangen.1109 Sein Fazit: „Die Gesamt-
konstruktion ist in Anbetracht ihres Experimentalcharakters und im Licht
der angeführten Erfahrungen und Erwägungen jedenfalls sehr überlegt und
staatsklug.“1110
1935, etwa zur selben Zeit wie Voegelin, legte Georg Froehlich einen aus-
führlichen Kommentar der Maiverfassung vor. Den sowohl für Fachleute als
auch „für den akademisch gebildeten Laien“1111 gedachten Text kennzeichnet
die Nüchternheit des Juristen; in einzelnen Formulierungen klingen aber
kritisch-wertende Untertöne an. Als solcher kann schon der einleitende Hin-
weis gelten, es sei ein Missstand gewesen, dass die Willensbildung durch das
Staatsvolk seit 1918 auf „mechanischer Gleichheit“ beruht habe: Die Verfas-
sung von 1934 sei zur „Mitwirkung“ an der Staatswillensbildung übergegan-
gen.1112 Um die Problematik des autoritären Charakters derselben wusste
Froehlich1113, und er verschwieg auch nicht, dass die Bezeichnung „Repub-
lik“ für die Staatsform in expliziter Form nicht in den Text aufgenommen
1105 voeGelin, Staat, 50 f.
1106 voeGelin, Staat, 225–235; vgl. buKoscheGG, Das ständisch-autoritäre Österreich, 85.
1107 buKoscheGG, Das ständisch-autoritäre Österreich, 79.
1108 voeGelin, Staat, 236–240.
1109 voeGelin, Staat, 249–252.
1110 voeGelin, Staat, 254.
1111 froehlich, Die Verfassung 1934, VII.
1112 froehlich, Die Verfassung 1934, 37; vgl. buKoscheGG, Das ständisch-autoritäre Öster-
reich, 66 f.
1113 froehlich, Die Verfassung 1934, 32.
3. DER POLITISCH-GEISTESGESCHICHTLICHE
RAHMEN176
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„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580