Page - 186 - in „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
Image of the Page - 186 -
Text of the Page - 186 -
Ernst Michel verglich die moderne Demokratie mit dem absolutistischen
Staat, der als Instanz des Ausgleichs und Ordnungsmacht die entfesselten
Machttriebe der Individuen zu binden versuche. Der Gesellschaftsvertrag
reagiere auf die Auflösung des Volks in eine Masse rechtlich gleicher Indivi-
duen, in der an die Stelle der Gemeinschaftswerte der Krieg aller gegen alle
getreten sei.55 Hermann Roeder griff zur Beschreibung der Hintergründe auf
das von Thomas Hobbes aufgenommene Plautuswort homo homini lupus zu-
rück, um auf die Gefahren einer materialistisch-mechanistischen Anthropo-
logie hinzuweisen56: Der rücksichtslose Einzelgänger sei an die Stelle des als
Persönlichkeit anerkannten Mitglieds der Gesellschaft getreten; im ande-
ren sehe er grundsätzlich den Konkurrenten, wenn nicht den Gegner.57 Die
Alternative sei der ständisch-universalistische Staat, das Gegenmodell zum
Leviathan.58 Das mythische Seeungeheuer sah auch Eric Voegelin sich erhe-
ben, wenn der Gesellschaftsvertrag – und nicht die von Aristoteles gesehene
Vorliebe des Menschen für konstruktive Zusammenarbeit59 – die Grund-
lage des Zusammenlebens der Menschen sein sollte60, desgleichen Johannes
Messner; Individualismus und Kollektivismus waren für ihn lediglich Vari-
anten ein und desselben Phänomens61, desselben, das der in aristotelischer
Tradition stehende Thomas von Aquin als Missverhältnis zwischen Teil und
Ganzem beschrieben hatte.62 August M. Knoll glaubte die Alternative zu
kennen: „Berufsständische Ordnung ist Gesellschaftsvertrag!“63
Karl Lugmayer und Anton Klotz bezeichneten die individualistische Ge-
sellschaft als gestaltlos, nicht geordnet, nur verwaltet64; sie sei kein leben-
diges Wesen, in dem jedes Glied seine Aufgabe erfüllt, sondern eine Ma-
schine.65 Johannes Messner beschrieb als eine der Folgen Bürokratie und
„Sekretärsherrschaft“.66 Ignaz Seipel bedauerte, dass Westeuropa „in Über-
schätzung seiner Fortschritte“ der Welt als Muster bürgerlicher Freiheit
hingestellt werde und dass die preußische Bürokratie als Vorbild zentraler
Organisation gelte: In einem solchen Staat sei das Volk „lediglich Rohmate-
55 NR 8. 5. 1926 (E. michel).
56 Zu Hobbes vgl. newman, Zerstörung, 227–229 und 247 f.
57 StL 1935, 377 f. (H. roeder).
58 StL 1935, 68–74 (H. roeder).
59 newman, Zerstörung, 37.
60 voeGelin, Religionen, 43 f.
61 MSchKP 1, 8 (J. messner).
62 PiePer, Über die Gerechtigkeit, 74 f.
63 Knoll, Ziel, 24.
64 Zum Beamtenapparat als Ausdruck weltfremden Verwaltertums vgl. senft, Im Vorfeld, 49.
65 KlotZ, Probleme 2, 158; K. luGmayer, Grundrisse, 76–79; K. luGmayer, Linzer Programm,
18, 59.
66 Klose, Berufsständische Ordnung, 202. 4. DIE POLITISCH-GESELLSCHAFTLICHE
LAGE186
back to the
book „Berufsstand“ oder „Stand“? - Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit"
„Berufsstand“ oder „Stand“?
Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Title
- „Berufsstand“ oder „Stand“?
- Subtitle
- Ein politischer Schlüsselbegriff im Österreich der Zwischenkriegszeit
- Author
- Erika Kustatscher
- Publisher
- Böhlau Verlag
- Location
- Wien - Köln - Weimar
- Date
- 2016
- Language
- German
- License
- CC BY 4.0
- ISBN
- 978-3-205-20341-4
- Size
- 17.4 x 24.6 cm
- Pages
- 682
- Keywords
- Parlamentarische Demokratie, berufsständische Ordnung, Naturrecht, katholische Soziallehre, Personalismus, konservatives Denken, traditionale Herrschaft, autoritäre Herrschaft, Totalitarismus, Widerstand gegen den Nationalsozialismus, politische Utopie
- Categories
- Geschichte Nach 1918
Table of contents
- Vorwort 11
- Abkürzungen und Siglen 17
- 1. Das Erkenntnisinteresse 19
- 2. Zur Methode 45
- 3. Der politisch-geistesgeschichtliche Rahmen 59
- 3.1 Österreich 1918–1938 59
- 3.2 Geistige Anregungen aus den frühen zwanziger Jahren: Othmar Spann, Richard Nikolaus Coudenhove-Kalergi 84
- 3.3 Die „Gesellschaftsreform“ auf christlich-sozialer Grundlage 90
- 3.4 Die Enzyklika Quadragesimo anno und die katholischen Sozialtheoretiker 96
- 3.5 Die Nachbarschaft des faschistischen Italien 105
- 3.6 Berufsständische Entwürfe 156
- 3.8 Die Organe der Bundesgesetzgebung und ihre Besetzung 165
- 3.9 Die Maiverfassung in der Analyse kritischer Zeitgenossen 170
- 4. Die politisch-gesellschaftliche Lage in der Wahrnehmung bürgerlicher Kreise 181
- 5. Der Mensch ist Person 211
- 6. Standesbewusstsein 301
- 7. Die berufsständische Ordnung 435
- 8. Staat und Gesellschaft 487
- 8.1 Die Gesellschaft als Entfaltungsraum der Person 488
- 8. 2 Wesen, Aufgaben und Grenzen des Staates, Verhältnis zu den Ständen 490
- 8.3 Das Subsidiaritätsprinzip 494
- 8.4 Föderalismus versus Zentralismus 498
- 8.5 Das Autoritäre 503
- 8.6 Schul- und Volksbildung 511
- 8.7 Ständestaat und autoritäres System auf dem Prüfstand 518
- 9. Resümee: status ist ordo 527
- 10. Anhang 541
- 11. Quellen und Literatur 580